Summend stellte die junge Frau das Glas mit der roten Flüssigkeit auf dem Tisch ab. Ohne jegliche Hast und Eile sah sie sich dann in der Küche um, und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Sie entschied sich dazu, aus der Schublade des Schrankes eine Serviette zu holen und wischte sich damit den Mund ab. Weiterhin summend blickte sie dann an sich herunter und bemerkte bestürzt, dass ihr weisses Kleid voller roter Sprenkel war. Die Bestürzung wich aber sofort der Faszination und sie drehte sich leicht um sich selbst, so, dass das weiss mit dem rot zu verschmelzen schien. Lächelnd verliess sie die Küche wieder und nahm das Glas mit. Sie hinterliess rote Fussabdrücke. Langsam und bedächtig strich sie wie ein Geist durch das grosse Haus, nahm hin und wieder einen Schluck von dem roten Saft. Es schien sie überhaupt nicht zu kümmern, dass alle Fenster offen waren, dass es regnete und dass das kühle Nass den Holzboden benetzte. Im Gegenteil, sie schien es zu geniessen, denn hin und wieder blieb sie an einem der Fenster stehen und blickte einfach hinaus. Ihr langes Haar war inzwischen feucht und über ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut, die sie allerdings nicht zu stören schien. Hätte man sie einigermassen zu Recht gemacht, dann hätte man wohl eine schöne junge Frau vor sich gehabt. Doch jetzt, in diesem verwahrlosten Zustand, konnte man sie nur als abschreckend bezeichnen. Erneut nahm sie einen Schluck aus dem Glas. Inzwischen war sie auch auf dem Dachboden angekommen. Auf einmal schien sehr entschlossen zu sein, und nicht mehr ziellos umher zu wandern, denn sie stiess die Luke zum Dach auf und zog die ausklappbare Leiter mit einiger Anstrengung hinunter. Nun fing sie doch leicht an zu zittern, denn der Wind blies heftig durch das Loch nach unten und liess ihre Haare nach hinten fallen. Trotzdem stieg sie die Leiter hinauf und betrat schliesslich das flache Stück Dach. Das Aluminium war kalt und da sie barfuss war, tapste sie von einem Fuss auf den Anderen. Sie führte das Glas ein allerletztes Mal an ihre, vom Saft gefärbten, roten Lippen, denn nachher würde das Glas leer sein.
Es war Herbst. Sie sassen beide auf dem Dach, in eine Decke eingewickelt und vor sich einen Tee stehend. Goldene Blätter verliessen den Baum, welcher vor dem Haus stand, und segelten langsam gen Boden. Die Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen. Richtung Erde. Sie lachte glücklich auf und kuschelte sich noch mehr in seinen Arm. Er drückte sie fest an sich und gab ihr einen Kuss aufs Haar. Beide waren über alle Massen glücklich. Zärtlich knabberte sie an seinen Lippen und küsste ihn dann sanft. Er erwiderte den Kuss und zog sie in eine warme Umarmung.
Das Glas war leer und sie stand nun völlig ruhig und unbeweglich am Rande des Daches. Ihre Zehen lugten leicht über den Rand und ihr Kleid flatterte leicht im Wind.
Es ging auf den Winter zu. Die Bäume waren inzwischen vollkommen kahl und Frost überzog die Strassen. Trotzdem hatte es noch nie geschneit. Sie sass alleine im Wohnzimmer. Die Uhr schlug zwölf und der tickende Gong hallte laut in der sonst so stillen Wohnung wieder. Das Geräusch nervte sie und sie hätte es am liebsten verbannt. Sie fühlte sich einsam und wollte weinen. Doch es ging nicht. Keine Tränen kamen. Es schien so, als wäre auch sie zu Frost erstarrt. Er hatte ein Aufgebot zum Krieg bekommen und war schon zwei Monate weg. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Kein Brief, kein Telefon, einfach gar nichts. Sie hatte nicht mehr das Haus verlassen und hätte nicht stetig das Wetter draussen vor den Fenstern geändert, so hätte sie denken können, dass die Zeit still stand. Wo war er? Wieso meldete er sich nicht?
Sie trug ein schwarzes, langes Trauerkleid. Über ihrem Kopf hielt sie schützend einen schwarzen Schirm, um den eisigen Regen abzuhalten. Das Wispern der Leute um sie herum nahm sie überhaupt nicht war, genauso wenig wie die Worte des Pfarrers. Es hatte immer noch nicht geschneit. Aber er war nicht mehr hier. Sie trat vor sein ausgehobenes Grab und sah mit leblosem Blick in den Augen zu ihm hinunter. Zwar konnte sie ihn nicht sehen, aber die Tatsache zu wissen, dass er da drin war, genügte ihr. Langsam und wie in Trance streckte sie ihren Arm vor und liess die drei Rosen nach unten in die Tiefe fallen. Zu ihm. Ohne es zu merken, liess sie den Schirm fallen und beugte sie selber sich immer mehr nach vorne. Wenn sie nicht plötzlich einige Arme umschlossen hätten, wäre sie zu ihm hinuntergefallen.
Das Messer schnitt tief in ihr Fleisch, als sie es hineindrückte und dann mit einem raschen Zug die Haut vom Handgelenk bis zum Ellbogen aufschnitt. Blut strömte aus der selbst zugefügten Wunde und tropfte ihren Arm hinunter. Ruhig und sicher wechselte das Messer von ihrer linken zur rechten Hand und ohne zu Zögern schnitt sie auch den anderen Arm nach der genau gleichen Art auf. Dann blieb sie einfach weiterhin auf den Knien sitzen, während das Blut von ihrem Körper Abschied nahm und ihr Kleid und den Holzboden befleckte. Nach einer Weile stand sie auf und nahm ein Glas von der Anrichte. Es kümmerte sie nicht im Geringsten, dass sie dabei durch ihre eigene Blutlache lief, die sich mittlerweile gebildet hatte. Etwas zitternd hielt sie das Glas an erst an ihren linken Unterarm, dann an ihren rechten, um das ununterbrochen fliessende Blut gefangen zu halten. Es hatte keinen Grund, was sie tat. Aber sein Tod hatte auch keinen Grund gehabt. Sie scherte sich nicht darum.
Und jetzt stand sie hier. Es hatte zu schneien begonnen. Dicke Flocken verliessen das Himmelszelt und fanden den Weg hinunter zur Erde. Das stille Weiss leuchtete hell in der aufkommenden Nacht, und der Vollmond liess das Ganze gespenstisch und unreal wirken. Sie fühlte sich vollkommen frei, wie sie da so stand. Sie fühlte endlich wieder etwas, nach langer Zeit. Und sie fühlte Trauer. Und Neugier. Neugier auf das, was kommen würde. Anmutig hielt sie das Glas über den Rand hinaus. Einen Moment noch hielt sie es mit den Fingerspitzen fest, dann liess sie es fallen. Es ging nur zwei Sekunden, dann vernahm sie von unten ein Klirren. Genauso leicht wie das Glas würde auch sie zerbrechen. Ihr Körper würde sich verbiegen und jeden einzelnen ihrer Knochen hoffentlich mit lautem Knacksen brechen. Ein Wunschtraum, um wieder bei ihm zu sein. Etwas Nasses lief über ihre Wangen. Aber es war weder Schnee noch Wasser. Als es ihre Lippen erreichte, nahm sie den salzigen Geschmack ihrer Tränen wahr. Ohne weiter darüber nachzudenken, schloss sie ihre Augen und ein leichtes Lächeln überzog ihr Gesicht. Unbeirrt ging sie in die Hocke und kauerte sich zusammen. Dann stiess sie sich nach oben ab und sprang. Und während sie sprang breitete sie ihre Arme aus, um für einen Moment zu fliegen wie ein Vogel, bevor es endgültig schwarz um sie herum wurde.