Flügelschwingen
„Die Menschen sind verdorben in ihrem Wesen und sehen es nicht."
Im Land der Nebel und Moore taten sich einst höchst absonderliche Geschichten auf. Man wusste nicht, ob sie stimmten, traute sich nicht genauer nachzuforschen und auch der Familie gegenüber war man vorsichtig. Eine äußerst bange Zeit schlich sich in dieses Land, eine voller Unmut und Furcht.
So kam es, dass ein Junge von großem Mut sich fragte, ob sie von wahrer Natur wären. Seine Eltern betrachteten seine furchtlose Neugier sorgenvoll und warnten ihn vor dem Ungewissen, doch er hörte nicht auf sie.
„Mutter, ich kann nicht länger stillschweigend und wohlbehütet in diesem Hause verweilen, während in unseren Land Schrecken herrscht; schwangere Weiber nicht wissen, warum sie kein Kind gebären und die Vögel solch Unruh verursachen. Ich muss etwas tun."
Die Welt war trist geworden, die Landschaft kalt und grau; Pflanzen wuchsen nicht mehr und die Flüsse trockneten aus. Leblos.
Der mutige Junge schlich sich in einer besonders kalten und dunklen Nacht aus dem Elternhaus, ließ seine Eltern zurück, verabschiedete sich durch einen langen Abschiedsbrief, in dem er ihnen erklärte, was er tat. Natürlich hatten sie damit gerechnet, es war keineswegs eine Überraschung, dennoch, als sie ihn am nächsten Morgen nicht wie gewohnt in seinem Bette vorfanden, trauerten und weinten sie. Ihr einziges Kind ging dem Tod entgegen.
Währenddessen schlang ihr Sohn sich fest in seine mit Fell gefütterte Jacke, genäht von seiner lieben Mutter, fest entschlossen den Ereignissen endlich ein Ende zu bereiten. Die Tage kamen, die Nächte vergingen. Seine Hoffnungen schwanden, die Gerüchte wurden immer absurder und eines Nacht schreckte ihn ein gellender Schrei aus dem Schlaf. Ganz in seiner Nähe vernahm er ein leichtes Kratzen und das Wimmern einer Frauenstimme.
„Bitte. Geh fort von mir. Lass mir mein Kind." Die Frau flehte, klang schrecklich verzweifelt und schwach, doch zur Antwort bekam sie nur etwas, dass sich anhörte, wie das höhnische Klacken eines Schnabels.
„Wenn es nur so einfach wäre, Frau. Du weißt, es ist unausweichlich, dass es dir genommen wird. Widerspreche uns nicht, sonst kann es auch dir zum Verhängnis werden", erwiderte eine krächzende Stimme. Es klang tatsächlich so, als würde der furchtlose Junge endlich das gefunden haben, was er seit Wochen suchte. Langsam, still und vorsichtig, näherte er sich den Stimmen. Vor ihm bot sich ein erschreckendes Schauspiel. Eine Frau, völlig entblößt, lag vor den Krallen eines unbeschreiblichen Wesens. Es hatte die Statur eines Menschen, jedoch hatten sich Flügen auf dessen Rücken gebildet, die seinen Körper umschlungen hatten. Das Gesicht war ebenfalls das eines Menschen, bis auf den langen Schnabel, der anstelle eines Mundes aus seinem Antlitz ragte. Die Szene hätte weniger angsteinflößend gewirkt, wenn die Frau nicht über und über mit Blut beschmiert und ihr sich wölbender Bauch nicht aufgeschlitzt wäre. Sie atmete flach und hatte kaum Kraft, überhaupt bei Bewusstsein zu bleiben. Das Vogelwesen jedoch schien etwas mit seinen langen Flügeln zu verbergen und blickte abschätzig auf die Frau hinab.
„Sterbe still und dir wird nichts geschehen. Du weißt, es ist die Strafe der Flügelschwingen, die eures Gleichen ereilen wird, nicht nur deinem Balg, Weib." Es wandte sich bereits ab und wollte in die tiefe Nacht hinein gehen, als der Junge sich ans Herz fasste und auf die Lichtung trat.
„Halt, bleib stehen, Geschöpf."
Schwer atmend wartete er auf eine Reaktion des Wesens, doch es verharrte lediglich auf der Stelle und drehte sich nicht um. Als der Junge weitersprechen wollte, drehte es sich zaghaft um. Die roten, wütend wirkenden Augen auf ihn gerichtet, kreischte es einmal. Dann durchdrang ein leises Wimmern die Stille. Es kam aus den Federn des fedrigen Monsters.
„Was willst du hier, Menschenjunge? Gerechtigkeit üben? Deinesgleichen verteidigen? Die Unwürdigen unter euch? Ich bitte dich, kehre zu deinen lieben, sich töricht sorgenden Eltern zurück, Kind", sprach es mit einer weniger fürchterlichen Stimme, fast sogar freundlich. Die Augen des Jungen zogen sich misstrauisch zusammen, dann lachte er kalt; er wusste nicht, dass er zu solchem Hohn imstande war, doch er fühlte sich sicher, in dem, was er tat.
„Ich will keine Gerechtigkeit üben, ich vermag nur nicht zu glauben, dass eine schwangere Mutter nicht das Recht hat, ihr Kind kennen zu lernen... Und dann nahmst du kaltblütig ihr Leben, nennst du das Gerechtigkeit? Bist du das Geschöpf, um das sich die Geschichten ranken? Das den Müttern ihre Kinder nimmt, die Vögel in Unruh versetzt?", sprach er mit erhobener Stimme, der Überzeugung, dass dieses Wesen Unrecht hatte.
„Was glaubst du denn zu wissen, Menschenjunge? Deine ganzen Vorfahren waren einst kaltblütige Wesen, die es sich nicht nehmen ließen, anderen Lebewesen das Leben zu nehmen. Und sieh sie dir an, sie tun es immer noch. Sie schlachten ihr Vieh, jagen die wilden, freien Tiere, schießen Vögel vom Himmel. Und sie misshandelten uns. Experimentierten mit uns, schufen grausam entstellte Geschöpfe, warfen sie weg wie Dreck. Ich kam wieder, schloss einen Vertrag mit dem Obersten ab. Ich durfte die Kinder dieser Menschen stehlen, sie ausbilden, sie zu meinesgleichen machen. Wir haben die Macht dazu, die Menschen zu unterdrücken, die Vögel frei fliegen zu lassen und dieser Korruption ein Ende zu bereiten. Glaubst du wirklich, meine Gründe wären aus reinem Egoismus? Nein, Kind, ich muss dich enttäuschen. Und jetzt geh endlich, nimm deine Beine in die Hand und laufe rasch, um es deinen widerwärtigen Mitheuchlern zu berichten. Sag ihnen, du hättest die entstellteste Kreatur gesehen, sag ihnen, wie blutrünstig ich war und enthalte ihnen vor, was ich dir erzählte." Noch immer war der Blick des Wesens kalt und abschätzend, jedoch sah man ihr deutlich die Trauer an, die es empfand. Das Baby hatte mittlerweile aufgehört zu weinen, ein leises Atmen war zu vernehmen. Einen Augenblick dachte der furchtlose Junge über die Worte der Flügelschwinge nach. Es tat ihm Leid, was dieser armen Kreatur widerfahren war, empfand Mitgefühl.
„Es tut mir Leid, Flügelschwinge, ich nahm an, du hättest aus reiner Willkür und Blutrünstigkeit gehandelt. Es ist furchtbar, was mein Volk euch angetan hat. Ich mache dir ein Vorschlag", bot er an und schaute dem Wesen festen Willens in die Augen. Misstrauisch zog die Flügelschwinge die Augen zusammen und dachte darüber nach, wies ihn aber an, weiter zu sprechen.
„Ich möchte dir vorschlagen, mich anstelle der Kinder zu nehmen. Sie sind die unschuldigsten Geschöpfe dieses Landes, ich mag nicht zu urteilen, dass ich ebenfalls unschuldig bin, jedoch verstehe ich dein Leid. Bitte nimm ihn an. Ich helfe dir auch anders, an deiner Seite, die Menschen wieder zu ihrer angeborenen Unschuld und ihrer Friedlichkeit zurückzubringen. Es wird schwierig, aber bitte verschone diese armen Kinder."
Die Flügelschwinge bewunderte den Jungen für seinen starken Willen und den Mut, sich seines alten Lebens zu entledigen und bis ans Ende seines Lebens ein verunstaltetes Wesen zu sein, um sich für die anderen Menschen aufzuopfern. Er war von großem Wert für sie, jedoch schüttelte sie den Kopf.
„Ich kann dir das nicht antun, ich möchte... es nicht. Deine Unschuld ist von großem Wert, bewahre sie und führe die Menschen in ihr Glück. Ich... werde mich zurückziehen, euch euer Leben leben lassen, denke nicht mehr an mich."
Mit großer Anmut breitete die Flügelschwinge ihre Flügel aus und flog in die tiefe Nacht und kam nie mehr wieder.
Der mutige Junge jedoch kehrte zu den Menschen zurück, erzählte ihnen die Geschichte und belehrte sie. Die Menschen schenkten ihm kein Glaube, verhöhnten ihn. So zog der Junge sich in den Wald zurück und lebte mit der Flügelschwinge für den Rest seines Lebens zusammen, darauf bedacht, den Menschen ihr wahres Gesicht zu zeigen...