Es ist wieder soweit. Fünf Uhr nachmittags, die Schule ist aus, die Kids sind zuhause. „Nur ich steh wieder hier draussen, wie ein Vollidiot, im Regen. Und wieso das Ganze? Gott ich wünschte, es wäre einfacher. Ich wünschte, das Leben wäre einfach, mein Herz würde aufhören zu fühlen und mein Verstand aufhören, zu denken. Vielleicht sollte ich sterben….“, zu sich selbst flüsternd stand ein Junge im Regen. Die meisten Lichter im Gebäude vor ihm waren bereits aus. Der Himmel hatte sich verdunkelt, grau und trostlos näherte sich der Abend dieses kalten Novembertages. Dylan schloss die Augen und dachte an sie. Wie er sie zum ersten mal gesehen hatte, als er in diese neue Schule kam. Ihr weisses Kleid, damals im Sommer, und der braune Schal, der im Wind flatterte… Ihre langen, dunkelroten Locken, die nach Zimt und Oleander dufteten, als sie an ihm vorbei lief… Ihre magische Aura, die ihn jedes Mal kitzelte wenn er sie sah...Er sah ihr immer nach. Oder lief an ihr vorbei, doch nie hatten sie sich in die Augen geschaut. Diese grünen Augen… Ja, er gab es zu, schon seit einem Jahr liebte er sie. Josephine… Ihr Name schon war ein Gedicht, ihr Aussehen die reinste Poesie. Doch sie ahnte nichts von seinen Gefühlen. Er hatte noch nie mit ihr gesprochen. Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, dass er existierte. Besser so, dachte er. Er hatte seine Gründe, wieso es nicht sein durfte, wieso er sie nicht ansprechen durfte. Schliesslich war er ein Freak. Ein Ausseinseiter. Manche würden ihn als verrückt bezeichnen... Aber heute war alles anders, heute hatte er sich entschieden. Er würde mit ihr sprechen, alle Gründe ausser Acht lassen. Seit einer Woche kursierten Gerüchte, sie sei mit diesem Jack zusammen. Mit diesem Nichtsnutz, der letztes Jahr schon dutzende Mädchen abserviert hatte. Ausserdem wusste Dylan, dass er in gefährlichen Kreisen unterwegs war. Und Josephine war… so ahnungslos. Wenn sie wüsste… Doch wie konnte er es ihr weissmachen? Dass sie etwas besseres verdiente, auch wenn er selbst nicht derjenige sein konnte? Wie konnte er überhaupt erwarten, dass sie ihm zuhören würde? Sie kannten sich nicht. Wahrscheinlich würde sie Angst vor ihm kriegen. Das fühlten die meisten, wenn sie mit ihm redeten. Aber sie musste ihn anhören! Seine Muskeln spannten sich an, der Regen fiel unaufhörlich und seine Gedanken kreisten immer um die selbe Vision… Sie, sterbend. Jack, dieser Mistkerl, seine Augen vor Schock geweitet. Dylan wusste nicht, was geschehen war, weshalb sie starb. Alles, was er wusste war, dass es wegen Jack passieren würde. Und er musste sie davor bewahren.
Er stutze einen Augenblick. Vielleicht war es eine Vision über Jack, und nicht über Josephine. Vielleicht musste er sich ihn vorknöpfen, um alles in Ordnung zu bringen. Alles in Ordnung bringen, was noch nicht einmal passiert ist, dachte er süffisant bei sich. Er hasste seine Visionen. Als Kind hatten sie sich nie erfüllt, weil meistens etwas dazwischen kam, was die Zukunft änderte. Irgendwann hatte er aufgehört zu reagieren, wenn sie kamen. Und irgendwann wurden sie weniger…. Doch manchmal, ganz selten, passierte es. Und er erstarrte und sah, und sah doch nicht… Ja, vielleicht sollte er Jack eliminieren.
Da öffneten sich die Schultore, und Josephine rannte raus. Sie hatte keinen Schirm bei sich. In kürzester Zeit war er bei ihr, hielt seinen Schirm über ihre beiden Köpfe und starrte sie an. Sie starrte zurück. Sie schienen in diesem Augenblick Statuen zu sein, bewegungslos, erstarrt. Wieso konnte er sich nicht bewegen? Wieso sagte sie nichts? Ihre Augen… hielten ihn fest. Er musste wegschauen, um wieder atmen zu können.Er räusperte sich. „Hi, wir kennen uns noch nicht“, sagte er, immer noch wegschauend. „Ich.. Ich weiss“. Ihr flüstern war kaum zu hören, so laut prallte der Regen auf den Boden. „Ich muss dir etwas sagen. Du… du musst mir glauben. Es geht um Jack O’Connel. Er ist gefährlich. Er wurde vorbestraft, zwei Mal, wegen … Mein Vater ist Sherriff in der Ortspolizei.“, er stockte. Ihr Atem ging schnell, doch sie konnte ihm nichts entgegnen. „Wenn du mit ihm zusammen bleibst, wirst du vielleicht sterben.“, schloss er und versuchte, sein Gesicht möglichst ernst aufrecht zu erhalten. „Woher….?“ Begann sie, doch da hatte er ihr den Schirm schon in die Hand gedrückt und lief davon, so schnell er konnte. An der nächsten Ecke blieb er stehen. Er war schon weit ausser Sicht, sie würde ihn nicht sehen. Es donnerte. Er schlenderte langsam weiter. Ich muss hier weg, irgendwo in Ruhe nachdenken. Seine Aktion hatte ihn aufgewühlt. Das Schlimmste war der letzte Ausdruck auf ihrem Gesicht, es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte ihm nicht geglaubt, natürlich nicht. Er lief weiter, ohne es zu merken, bis zum Waldrand des Rainy Forest. Auf der anderen Seite des Waldes wohnte er. Doch normalerweise nahm er den Umweg über die Stadt, um nachhause zu kommen. Nur an schönen Tagen lief er durch den Wald. Vor einem Pfad bieb er stehen. Heute war kein schöner Tag. Doch wenn er sich beeilte, wäre er in einer halben Stunde wieder zuhause. Kurz entschlossen lief er weiter, den Pfad entlang in den Wald. Wieso hatte sie ihn überhaupt weiterreden lassen? Es war absurd. Wahrscheinlich würde sich seine Vision nicht einmal verwirklichen. Doch die Möglichkeit, sie zu verlieren… dass sie nicht mehr auf der Welt wäre, lebendig, vor seinen Augen wo er sie betrachten konnte… Nein das durfte nicht sein. In einiger Entfernung hörte er den Bach, der hier durchfloss. Heute hörte es sich viel lauter an, das lag aber wahrscheinlich am Regen. So zermürbt lief er weiter und bevor er sich versah, rutschte er aus. Noch halt suchend, schleifte ihn der nasse Waldboden den Pfad runter, bevor er halt machen konnte. "Verdammt…was..!“, doch da war es schon zu spät um zu reagieren.
Der ganze Boden war durchgeweicht und der Bach, der in Entfernung hätte sein sollen, floss nun genau vor seinen Füssen. Und es war kein Bach mehr, es war ein tosendes Wasser. Er versuchte sich, an irgendetwas festzuhalten, doch die Zweige waren zu dünn und gaben keinen Halt, seine Sicht war verschwommen durch den Regen. Mit einem Keuchen riss ihn das Wasser an sich und hielt ihn in seinem tosenden Fluss, während er angestrengt zu schwimmen versuchte. Er geriet in Panik, seine Bewegungen nützten nichts, der Fluss riss ihn mit sich und überschwemmte ihn. Er würde seinen Wunsch erfüllt bekommen und sterben, dachte er noch. Da hörte er ein unnatürliches Plätschern. Eine Sekunde später griffen zwei Hände nach ihm und er hielt sich mit aller Kraft an diesen Händen, während er sich wie ein Klumpen Eis fühlte, durchgefroren und bewegungsunfähig. Plötzlich wurde das Tosen weniger, und mit einer Mühe katapultierte er sich, und der Mensch neben ihm, auf den steinigen Boden des Flussrandes. Er keuchte und hustete viel, neben sich hörte er ebenfalls ein flaches Atmen. Was war passiert?
Er drehte seinen Kopf, um zu sehen wer neben ihm lag und…erstarrte. Sie? Nein, das machte gar keinen Sinn. Josephine richtete sich halb auf, als sie seinen fragenden Blick spürte und schaute ihn – zornig – an. „Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht?! Du..!“, sie holte drei Mal tief Luft. Ihr Zorn verflog so schnell, wie er gekommen war und ihr Gesicht nahm langsam erleichterte, freundliche Züge an. Er konnte noch immer nicht sprechen. Als sie seinen Ausdruck sah, legte sie sich wieder hin. So blieben sie liegen. „Ich bin dir gefolgt“, gestand sie nach einigen Minuten. Sie atmeten beide wieder gleichmässiger. „Wieso?“, ihm fiel nichts besseres ein.
„Für einen Future Providere bist du aber ziemlich ungebildet.”, gab sie schalkhaft zurück und lachte auf. “Okay, ich weiss, dass du besondere Fähigkeiten hast. Macht das einen Sinn?” Sie schaute ihn direkt an, und er konnte nicht anders als auch sie anzuschauen. Wieder war da dieser …Bann, etwas, das ihn festhielt. Er konnte nicht wegschauen. Langsam sagte er “Aber… woher weisst du das? Und wie konntest du überhaupt in diesem Fluss schwimmen?!”.
Sie wartete einen Moment. Dann verblüffte sie ihn völlig. “Ich weiss es, weil ich auch Visionen habe. Aber ich kann nur die Zukunft der Menschen sehen, die mir etwas bedeuten. Deshalb war ich auch in letzter Zeit oft mit Jack unterwegs... Ich kenne ihn seit der Vorschule, und ich wusste, dass ihm etwas passieren würde, wenn ich nicht.... Naja. Und in dem Moment, als du mich heute Abend angesprochen hast, wusste ich, dass du mir etwas bedeutest.... Wir haben die Verbindung zwischen uns. Es ist in der Tat aussergewöhnlich… wie dem auch sei. Auf jedenfall habe ich gesehen, dass du heute sterben würdest, wenn ich nichts dagegen unternehmen würde. Und das wollte ich dir nicht antun”, ergänzte sie ganz verspielt und lächelte.
“Warte. Das ist zu viel... Aber wie bist du geschwommen, das war unmöglich! Selbst ich…”, setzte er an doch sie unterbrach ihn. “Ach, das war leicht. Mit den Visionen kommt auch die Kraft, sie zu verhindern. Aber das wirst du alles noch lernen, wenn du ein richtiger Providere wirst. ”. Sie seufzte. Da lag er nun neben ihr, beide voll durchnässt und erschöpft. Er kroch langsam zu ihr. Neben ihr angekommen drehte er seinen Kopf zu ihr und schaute sie an und fand … alles. “Du hast mir das Leben gerettet.”, flüsterte er, “dabei wollte ich heute deins retten”. Und ohne ein weiteres Wort beugte er sich zu ihr runter und küsste sie.