Diese (wirklich kurze) Kurzgeschichte ist eins meiner aller ersten Werke. Ich habe sie im Zuge einer Schreibwerkstatt geschrieben und mag sie auch nach all der Zeit noch richtig gerne. Deshalb dachte ich mir, ich präsentier sie euch.
Viel Spaß beim lesen!
Der Regen
Der Regen prasselte gegen das Fenster.
Sie saß auf der breiten Fensterbank und beobachtete wie sich ein Regentropfen seinen Weg quer über die Scheibe bahnte.
Gedankenversunken schaute sie auf die Welt hinter der Scheibe.
Diese lediglich vom fahlen Mondlicht beschienene fremde Welt.
Jetzt erreichte der Regentropfen das untere Ende der Scheibe und tropfte in eine der zahllosen Pfützen, die sich unterhalb des Fensters gebildet hatten.
Einsamkeit.
Allein in einer großen Welt.
Wie sollte sie sich hier zurecht finden? Sie war noch nicht so weit.
Ihre Gedanken klammerten sich an alte Erinnerungen von längst vergangenen Tagen.
Gleich den Wurzeln eines Baumes, tief verankert in der Erde, gaben sie ihr Halt.
Sie wollte nach vorne schauen. Einen Schritt Richtung Zukunft wagen.
Und dennoch konnte sie nicht loslassen, aus Angst Fehler zu begehen.
Aus Angst vor Veränderungen.
Es würde sich alles verändern. Es hatte sich schon alles verändert.
Ein greller Blitz riss sie aus ihren Gedanken. Für einen Moment nahm sie wieder ihre unmittelbare Umgebung wahr.
Sie hatte nicht bemerkt, dass die Musik, welche sie im Hintergrund hatte laufen lassen, nicht mehr spielte.
Sie liebte Beethovens Mondscheinsonate.
Genauso wie sie den Mond liebte.
Selbst in dem Regen war er faszinierend. Es schien als würde er tausende von Tränen weinen.
Tränen der Freude, da er wieder in seiner vollen Pracht die Nacht erhellen konnte.
Auch sie hatte eigentlich Grund zur Freude. Sie war ja auch dankbar für die Chance die sie erhalten hatte.
Die Chance auf die sie schon so lange gewartet hatte.
Die Erfüllung eines Traumes.
Ihres Traumes.
Wahrscheinlich saß sie auch nur deshalb in solch einer melancholischen Stimmung da, weil sie noch nicht realisiert hat, was geschehen war.
Weil sie noch nicht begriffen hatte, dass etwas eintraf, auf das sie schon ihr Leben lang gehofft hatte.
Wieder erhellte ein Blitz das Zimmer für einen Moment und warf gespenstische Schatten auf die vielen Umzugskartons.
Von einem plötzlichem Drang erfasst, stand sie auf und riss einen der Kartons auf.
Sie suchte etwas.
Etwas ganz bestimmtes.
Nachdem sie den Karton durchwühlt hatte, hielt sie endlich das liebevoll gestaltete Fotoalbum in den Händen.
Sie hatte es zum Abschied bekommen. Von ihren Freunden.
Sie blätterte in dem Album herum und betrachtete ihre, in Fotos dokumentierte, Kindheit. Ihre ersten Schritte. Das erste Fahrrad.
Der erste Schultag. Sie blätterte weiter zu den neueren Fotos.
Ihr Schulabschluss. Die letzte Party mit ihren Freunden. Ja sogar Fotos vom Abschied auf dem Flughafen waren da.
Auf der letzten Seite war ein Bild von einem Wegweiser: „Viel Erfolg! Wir denken an dich“ konnte sie in dem schwachen Licht lesen.
Sie atmete tief durch. Dann klappte sie das Album entschlossen zu und legte es zurück in den Karton.
Langsam hörte es auf zu regnen. Sie ging zurück an das Fenster und schaute wieder raus.
Alles würde gut werden. Sie würde sich auch hier einleben und sie würde auch hier Freunde finden.
Und nach einiger Zeit würde sie zurückschauen und glücklich darüber sein, diesen Schritt getan zu haben.
Sie öffnete das Fenster. Die frische, feuchte Luft schlug ihr entgegen.
Sie schaute wieder zum Mond hinauf, der eine letzte Träne weinte.