Du bist wie die See
Genre: Drama, Real Life
Art: Kurzgeschichte
Genre: Drama, Real Life
Art: Kurzgeschichte
»Du bist wie die See« flüsterte er und strich mir das Haar aus dem Gesicht. Seine Lippen umspielte ein Lächeln, das süße Tränen aus meinen Augen locken wollte. Alles, was er tat sog ich auf wie ein Schwamm, trug es in mir wie einen Schatz, den ich glaubte jeden Augenblick verlieren zu können.
»Wie kann ich wie die See sein?«, flüsterte ich und ließ meine Finger an seinem Kinn verweilen, das rau und schwer auf dem Kissen ruhte. Kyrill betrachtete mich stumm, während ich meine Finger weiterwandern ließ, von seinem Kinn zu den eingefallenen Wangen und an seine korallenblauen Augen, unter denen tiefe Schatten ruhten.
»Wie kannst du nicht wie die See sein?«, erwiderte er und fing meine Hand ein, drückte sie gegen seine Brust, in der sein Herz ungestüm galoppierte. Ich spürte seinen harten Schlag, das Pochen und Pumpen … ich hatte sein ganzes Leben unter meiner Hand. Langsam rutschte ich auf dem Bett näher zu ihm heran und flüsterte in sein Ohr:
»Die See ist weit weg. Doch ich bin hier.« Meine Lippen schmiegten sich an seine linke Schläfe. Einen Kuss hauchte ich flüchtig auf seine Haut und atmete gegen seine Wangenknochen.
»Du bist wie die See«, beharrte er und Korallenblau übermannte mich, so dicht war sein Gesicht vor meinem. »Du bist wie die See – und ich muss das doch schließlich wissen.«
»Ja ja, du Seebär«, lachte ich leise und löste mich von ihm, weil ich fürchtete, er könnte meine Verlegenheit bemerken. Die See war stürmisch, launisch zu diesen Zeiten. Aber auch unbezwingbar und wunderschön. Ich wollte nicht wissen, was er damit meinte. Zu groß war die Furcht, dass es ihm ernst war. Ihm, der danach trachtete, mein Herz zu besitzen – und immer begieriger danach verlangte.
»Wohin gehst du?«, vernahm ich seine leise, neugierige Frage in meinem Rücken. Ein unzufriedener, dunkler Unterton schwang in seinen Worten mit. Ich wusste, er versuchte stets zu verbergen, wie sehr ihn meine Rückzüge verletzten, doch ich sah es trotzdem. Ich hörte es in seiner Stimme, sah es in seinen Gesten und las es in seinen Augen kurz bevor ein weiterer Abschied bevorstand. Er verstand nicht, dass ich nicht blieb.
Dass ich nicht bleiben konnte.
»Er ist es«, hatte ich einmal gesagt, versucht ihm zu erklären, weshalb ich immer und immer wieder floh, die Stadt verließ und erst Wochen später wieder vor seiner Tür auftauchte. »Er braucht mich.«
»Wer ist er?«, hatte er mich gefragt, das Kinn auf seine gefalteten Hände abgelegt und mich von der gegenüberliegenden Seite des Tisches aus angeblinzelt. Doch ich hatte geschwiegen und gelächelt, mich vorgebeugt und ihn ein letztes Mal geküsst.
Auch heute sagte ich nichts, doch in meinen Gedanken versuchte ich mich selbst dazu zu überreden, mich einfach umzudrehen und mich an ihn zu kuscheln. Es ging nicht. Meine nackten Füße fanden den kalten Dielenboden, die Matratze ließ mich frei. Das Shirt über der Heizung zog ich an und die Hose vom Türhaken folgte, ohne dass ich Kyrill ansah.
»Du gehst wieder weg«, stellte er nun mit nüchterner Stimme fest, und ich sah aus dem Augenwinkel, wie er die Decke mit ruppigen Bewegungen beiseite schob und sich aus einer liegenden Position in die sitzende zwang. »Wirst du mir diesmal sagen, wohin du verschwindest?«
»Nein«, antwortete ich schlicht und fummelte meinen Zopfgummi aus der Hosentasche meiner Jeans, um mir mein strähniges, blondes Haar aus dem Gesicht zu streichen und am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zu binden.
»Ach«, kam wieder ein Wort von der Bettkante, dann vernahm ich das Geräusch bloßer Füße auf dem Boden. Er hielt direkt vor mir, in all seiner Blöße stand er mir gegenüber, und ich sah die Angst in seinen Augen. »Woher weiß ich, dass du wiederkommst?«
»Bin ich nicht immer wiedergekommen?« Die Frage stolperte träge über meine Lippen. Ich wollte nicht länger reden, denn jedes Wort schien mich mehr und mehr dazu zu zwingen, von hier zu verschwinden. Dies war nicht mein Zuhause. Er war nicht hier, dabei brauchte er mich doch.
»Ja, irgendwann tauchst du wieder auf. Du … du hast mir doch versprochen, damit aufzuhören? Was ist mit dem Versprechen, hm? Was ist damit?« Ich starrte ihn an, sein blankes Gesicht mit dem breit geschnittenen Mund und der knolligen Nase, die hohen Wangenknochen, das eckige Kinn, der tief in die Stirn gehende Haaransatz … Ich wollte ihn nicht vergessen, denn ich konnte ihn nicht aufgeben.
»Ich habe kein Versprechen abgegeben«, erwiderte ich leise und suchte in meinen Hosentaschen nach dem Schlüssel für mein Auto, doch er war nicht an seinem Platz. »Hast du meinen Schlüssel?«, fragte ich und kratzte den letzten Rest meiner Energie zusammen, um ihm meinen entschlossensten Blick zuzuwerfen, den ich in diesem Moment aufbringen konnte.
»Du hast versprochen, mich ewig zu lieben. Du hast versprochen, dein Leben mit mir zu verbringen.«
»Aber das tue ich doch!« Ich ließ meinen Blick umherschweifen, suchte den Boden mit den Augen ab, das Bett, den Nachtschrank, den großen Kleiderschrank, in dem nur Sachen von Kyrill lagen … dann die Kommode. Ich wollte meinen Schlüssel ergreifen, der darauf lag, doch Kyrill war schneller.
Er umschloss ihn mit seiner Faust und starrte mich an. Seine Nacktheit gepaart mit der Wut begann mir Unbehagen zu bereiten. »Gib mir meinen Schlüssel«, sagte ich lahm und streckte ihm meine Hand entgegen.
»Nein. Du teilst dein Leben mit mir.«
»Ja«, sagte ich. »Aber dafür brauche ich meinen Schlüssel.«
»Jana...« Er sprach meinen Namen so leidend und quälend langsam aus, dass es weh tat. »Du … du brauchst nicht wegzulaufen. Nicht vor mir.«
Ich nickte mechanisch. Diese und alle anderen Reden waren mir bekannt. Lauf nicht weg. Du musst nicht vor mir wegrennen. Bleib bei mir. Ich kann dir alles geben, was du brauchst.
Aber das konnte er nicht. Egal, wie sehr er sich bemühte … und ich schätzte seine Bemühungen, liebte seinen Ehrgeiz, liebte seine grenzenlose Liebe.
Aber meine Liebe für ihn besaß sehr wohl einige Grenzen und kannte Bedingungen. Vom Anfang bis zum Ende hatte ich doch klar gemacht, was meine Bedingung war. Ich musste kommen und gehen dürfen, wann ich wollte. Denn dass ich gehen musste, war – zumindest mir – klar gewesen.
Mit einem warmen Flattern in meiner Bauchgegend erinnerte ich mich an unser erstes Treffen. Die See im Hafen hatte im vollen Mittagslicht geglitzert. Ich hatte mir die Hand über die Augen gehalten, um dem Schnellboot entgegenzusehen, das an den Pollern festgemacht war und mit den kräuselnden Wellen des Wassers schwankte. Und dann hatte ich Kyrill erblickt, nicht auf dem Boot, nicht am Steg, nein, mitten im Wasser.
Einmal tauchte er unter, kam prustend wieder an die Oberfläche, dann klammerte er sich an eine Leiter, die von dem Boot, das ich mir angesehen hatte, herunter bis ins Wasser reichte. Nackt stieg er an Bord und das Wasser perlte von seinem schlanken, muskulösen Körper …
Hastig hatte ich mich umgesehen, doch niemand außer mir bemerkte oder beachtete ihn. Und so starrte ich ihn an, nicht sicher, ob das was er da tat überhaupt erlaubt war … doch eigentlich war es mir sowieso egal. Ich war bestimmt niemand, der sich um Konventionen scherte oder Gesetzeshüter spielte.
Ich sah zu, wie er sich abtrocknete und Hose und Shirt anzog. Dann sah er mich, erwiderte meinen bohrenden Blick … und lächelte. Genau das Lächeln war es, in das ich mich verliebte. Augenblicklich und ohne nachzudenken. Ohne Sinn und Verstand.
Heute fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn nicht auf einen Kaffee einzuladen, ihn nicht über sein Boot auszufragen und ihm meine Nummer zu geben. Dann hätte er mich nicht angerufen, er hätte mich nicht geliebt und in sein Haus und Leben gelassen. Er hätte mich nicht vermisst, als ich hatte gehen müssen, und er würde jetzt nicht meine Autoschlüssel in der Hand halten. Ich seufzte leise und versuchte, seinem Blick auszuweichen … doch wie bei unserem ersten Treffen konnte ich auch jetzt nicht wegsehen.
Dabei war die Wut und gleichzeitige Hilflosigkeit für mich kaum zu ertragen. Ich wollte bleiben, ich wollte ihn lieben, bedingungslos und mit allem, was ich hatte. Doch ich konnte gar nicht. Er brauchte mich mehr, als Kyrill.
»Bitte«, flehte er mit glitzernden Augen und bebender, nackter Brust. »Ich werde nicht länger auf dich warten. Ich … kann nicht wieder sechs Monate um dich bangen, mich fragen wo du bist und hoffen, dass du zu mir zurückkehrst.« Er trat einen Schritt auf mich zu, ich spürte den Schlüssel an meinem Hals, als er ihn zusammen mit seinen Händen an meine Haut presste und seine Stirn gegen meine drückte. »Ich liebe dich«, flüsterte er rau, die Stimme so tief dass sie mir Halt gab. Als könnte sie mich vor dem Fallen bewahren.
Ich schluckte und wollte mich ihm entziehen, doch er ließ mich nicht, hielt mich fest, sogar als ich mich mit Händen und Füßen gegen ihn stemmte, meine Hände auf seiner warmen Brust … Ich war wehrlos, nicht stark genug um mich gegen ihn zu stellen. Fast so, als würde er meinen Atem direkt von meinen Lippen stehlen und ihn zu seinem machen. Er nahm mir mein Leben, jede Zelle raubte er aus meinem Körper und markierte sie. Kyrill wollte, dass ich nicht länger Jana war. Er wollte mich zu seiner Frau machen, zur Mutter seiner Kinder. Doch ich war nicht bereit, jemandes irgendwas zu werden. Ich wollte meinen Namen und mein Leben behalten.
Ich musste ich sein. Und das wurde mir immer erst bewusst, wenn ich mich wieder in den Gefängnissen seiner Arme befand.
»Du bist die See«, raunte er gegen meine Stirn, seine Lippen an meiner Augenbraue, sein Kinn dicht neben meinem linken Auge. »Du bist die See und ich bin das Schiff, das du verschlingst.«
»Hör auf«, keuchte ich, drückte mich wieder von ihm fort, wollte seine Hände mit fahrigen Bewegungen von meinem Hals ziehen, doch er gab nicht nach. »Hör auf damit. Bitte. Bitte, Kyrill. Hör auf. Lass mich los.«
Demütigende Tränen bahnten sich ihren Weg aus meinen Augen und rannen mir über die Wangen, schlängelten sich wie kleine Bäche über meine Haut. Und dann war er mir so nah, seine Lippen schwebten an meinem Mundwinkel, seine Hände umfassten besitzergreifend meinen Körper.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich unter Tränen, ließ mich von ihm küssen und gab ihm so viel von mir zurück. Aber der Gedanke, zu fliehen, blieb. Denn das was ich gab, war nicht genug. »Ich liebe dich. Bitte lass mich gehen.«
Kyrill löste sich von mir, die Wimpern feucht und seine Augen gerötet. Er wischte sich über die Lider und ich sah den Schlüssel in seiner Hand aufblitzen, ehe er ihn langsam auf der Kommode ablegte und mir dabei zusah, wie ich das abgelegte, noch warme Metall in die Hand nahm und festhielt.
»Ich muss«, murmelte ich, als würde das die Begründung für alles sein. Als wäre das die Antwort, die er hören wollte.
»Das sagst du immer«, entgegnete Kyrill. Ich zuckte mit den Schultern. »Wann wirst du es mir erklären?«
»Bald.« Auch diese Antwort war einstudiert, zur Beruhigung gedacht, damit er mich gehen ließ und mich wieder aufnahm, wenn mich die Sehnsucht erneut fort von ihm und zurück in Kyrills Arme trieb. Das Leben war kompliziert und undurchdringlich. Ich verstand nicht, was ich tat. Aber ich wusste, dass ich so zu handeln hatte. Jeder besaß eine Rolle in jemandes Leben. Kyrill war da, um mich zu lieben. Er war mein Geliebter, mein Seelenverwandter, mein Freund und meine Hoffnung … aber er war nicht mein Leben.
Und egal, was ich tat, er würde es nicht werden. Ich würde immer fliehen, immer weglaufen und mich verstecken, seine Liebe ausnutzen und wiederkehren. Er würde mich immer aufnehmen, immer auf mich warten und mich lieben, wenn ich bei ihm sein wollte. Und das war unser vorbestimmtes, unerfülltes Leben. Er hatte noch das Meer, die See, mit der er mich so gern verglich.
Und ich hatte immer noch ihn, den Schatten, der mich brauchte. Der mich mehr brauchte, als Kyrill es tat. Nur verstand er das nicht. Oder noch nicht.
Irgendwann würde ich es ihm sagen, würde es erklären … und dann würde er wissen, was ich wusste. Warum ich nicht bleiben konnte, obwohl ich ihn liebte und bleiben wollte. Tief im Inneren wusste er es sicher schon. Doch erst, wenn ich es ihm sagte, würde er es verstehen … und akzeptieren.
»Ich werde an dich denken«, versprach ich mit leiser Stimme und wandte mich dann zum Gehen. Ich wusste, wenn ich jetzt ging, würde er nicht auf mich warten. Doch es gab jemanden, der immer auf mich zählte, an den ich gekettet war, ohne dass er mich zurückhielt. Ohne dass er so um mich kämpfte wie Kyrill es tat. Ich wollte keinen von beiden verlassen, doch ich wusste auch, dass eine Entscheidung schon lange vonnöten war.
Ein Zusammenzucken meines Körpers, als ich an den Ring dachte, der in meinem Handschuhfach zwischen Rechnungen und Kyrills Briefen ruhte. Der Verlobungsring, von dem der Mann, der dort vor mir stand, nichts wusste. Nichts ahnte von dem Mann, dessen Anwesenheit wie ein Schatten über mich fiel, immer wenn ich Kyrill liebte und wusste, ich konnte einfach nicht genug geben für das, was er so bedenkenlos in meine gierigen Hände legte. Ich schluckte. Mein Verlobter war die Wahl, er brauchte mich, mehr als Kyrill es tat.
Er brauchte mich, denn er hatte doch niemanden mehr. Und es war Zeit, dass ich auch niemanden mehr zum Vergessen hatte, bis auf ihn, meinen Verlobten, meinen einst Zukünftigen. Selbst, wenn er mir nicht mehr sagen konnte, was er empfand. Selbst, wenn er nicht einmal bemerkte wenn ich fort oder anwesend war. Er brauchte mich, und ich war nicht die See. Keine Ebbe mehr. Keine Flut.