Angels Love
Wieder war es Nacht. Und wieder lag sie allein, das Licht der Straße auf ihrem Gesicht. Sie könnte die Vorhänge zuziehen, aber es würde doch nichts nützen, ihre Gedanken hielten sie schon wach.
Rachel konnte nichts dafür. Sie wusste schon gar nicht mehr, wann die Welt begonnen hatte, sie zu erdrücken.
Schon zwei Selbstmordversuche hatte sie hinter sich, danach hatte man sie für ein Jahr in eine Klinik bringen lassen. Priester hatten auf sie eingeredet, ihr gesagt, sie müsse ihren Glauben wiederfinden. Sie bräuchte Gott bloß rufen und er würde ihre Gebete erhören. ‚Alles Quatsch! ‘ sagte sie ‚Gott ist tot! ‘ Danach hatte man sie ihren Aufenthalt absitzen lassen, verzichtete aber nicht darauf, das sie mehrmals täglich zum Gebet musste.
Still strich sie über die Narben an ihrem Körper, die Wunden, die sie sich seit Jahren selbst zufügte, nur, damit sie überhaupt mal wieder etwas spürte. Sie wusste genau, wo sie die verwachsene Haut fand und wie sie sich anfühlte.
Vor ein paar Monaten hatte sich einer ihrer Arbeitskollegen auf der Weihnachtsfeier mit ihr abgeseilt und sie waren im Kopierraum verschwunden. Sie dachte, dass sie es genießen konnte, zumal sie Michael gemocht hatte. Sie glaubte, das müsse so etwas wie Liebe sein.
Er hatte ihr den Rock hochgeschoben und kurz gezögert, als er die Narben sah. Sie dachte, er würde verschwinden, wie all die anderen, es würde ihn abschrecken, doch er machte weiter. Liebkoste ihren Hals, streichelte ihre kleinen Brüste. Aber sie fühlte gar nichts. Er achtete gar nicht auf sie, machte einfach weiter. Sie wehrte sich nicht. Er drang in sie ein, füllte sie mit seinem Samen und ließ sie dann zurück, beschmutzt, betrunken und voller Schmerz.
„Er ist genau wie alle anderen.“ Dachte sie leise bei sich und zog sich langsam wieder an, nur um die Feierlichkeiten sofort zu verlassen.
Auf dem Heimweg kaufte sie sich eine Flasche Tequila, der würde ihr schon gut tun. Daheim in ihrer kleinen Wohnung war es nicht schwer, sich fallen zu lassen. Sie trank zuerst die halbe Flasche aus, bevor sie es ins Bad schaffte. Sie sehnte sich nach dem vertrauten Gefühl des echten Schmerzes. Das erlösende Gefühl, wenn sie laut ihr Herz pochen hörte und das warme duftende Blut über ihre Arme floss.
Noch betrunkener als auf der Feier suchte sie in ihrem Badezimmerschrank nach den Rasierklingen. „Wo ssinnt nur disse b’schissenen Teile?“ fluchte sie lallend. Schließlich fand sie sie und ließ sich auf den Boden fallen. Alles um sie herum war verschwommen, dann hatte sie nur einen Lichtschein gesehen und war eingeschlafen. Am Morgen danach hatte sie nicht nur einen ungeheuren Kater, sondern auch eine Gedächtnis Lücke. Alles, woran sie sich erinnern konnte, war, das sie von der Weihnachtsfeier verschwunden war, um sich Zuhause eine Flasche Tequila zu genehmigen. Sie wachte am nächsten Morgen außerdem in ihrem Bett auf. Seitdem war es anders gewesen. Sie fühlte sich unbeschwerter, als hätte man ihr eine Last von den Schultern genommen.
Doch lange hatte dieses Gefühl nicht angehalten. Die Weihnachtsfeier, das alles, das war erst drei Monate her. Anfang März war es und in Philadelphia wurde es Frühling. Alle begannen, in den großen Parks herumzulungern und in der Öffentlichkeit herumzuknutschen. Rachel hasste diese Pärchen, wie sie sich Gegenseitig ableckten. Sowieso und wie schon erwähnt hing ihr das ganze Sein zum Hals raus. Sie fühlte sich verlassen und an diesem Tag wurde ihr auch klar, von wem.
Da lag sie also, in der ersten meteorologischen Frühlingsnacht, quälend nur der Gedanke des Lebens.
Sie fühlte erstmals seit langem wieder jede Faser ihres Körpers, als sie sich mit der Rasierklinge über ihre Arme fuhr. Es war ganz leicht. Die Klinge glitt wie ein warmes Messer durch Butter. Sie fühlte ihr Herz wieder pochen, als hätte sie gerade eben erst angefangen zu leben.
Sie fühlte das warme Blut herabfließen, spürte die kriechende Benommenheit, verursacht durch den Blutverlust. Suchte nach dem Tuch zum Abdrücken, konnte es nicht finden. Sie sackte zurück und fiel mit dem Kopf wieder in die Kissen.
Plötzlich hörte sie wie aus dem Nichts eine Stimme. Sie war wunderschön, wie Samt. „Rachel… Rachel.. was tust du uns nur an? Warum tust du das nur?“ „Gott hat mich verlassen…“ brachte sie stockend hervor. Sie konnte nichts sehen. Es wurde wieder so verschwommen vor ihren Augen, dann wurde es schwarz. Sie träumte, träumte von Licht und sanften Gesichtern, von schützenden Flügeln und fürsorglicher Liebe. Von einem Platz, an den sie gehörte.
Als sie wach wurde, ging gerade die Sonne auf. Sie konnte spüren, wie die Wärme langsam heran kroch. „Bin ich tot?“ „Nein, immer noch in Philadelphia, was mindestens genauso schlimm ist.“ Es war wieder diese sanfte Stimme, wenngleich sie auch sehr sarkastisch war. Sie setzte sich auf und war verwundert, wie leicht es ihr fiel, hätte sie doch Schmerzen haben müssen, nach den Schnitten, die sie sich gestern Nacht wieder zugefügt hatte. Sie sah an sich herab. All ihre Narben, alles, was sie bisher gekennzeichnet hatte, war verschwunden. Ihr fehlten die Worte. „Träume ich?“ „Meine Güte, Rachel! Nein! Aber du hast mindestens drei Tage durchgeschlafen und eine Menge Dinge im Schlaf gesagt. Ich vermute, das du geträumt hast, ja. Wunderst du dich gar nicht, dass ich hier bin? Oder wer ich bin und was ich in deiner Wohnung mache?“ Ungläubig sah sie ihn an, doch es störte sie nicht, dass er da war, es kümmerte sie eigentlich auch nicht, wer er war. Also schüttelte sie ihren Kopf. Doch dann regte sich doch etwas in ihr. „Was ist passiert?“ „Ahh! Sehr schön! Also hängst du doch noch an dem wunderschönen Geschenk unseres Herrn, das sich Leben nennt. Gut! Um zu deiner Frage zu kommen: Du wärst diesmal wirklich gestorben, wenn ich nicht wieder einmal eingegriffen hätte. Ich habe dir das Leben gerettet, deine Wunden versorgt und auf dich aufgepasst, die ganze Zeit.“ Er grinste ein wenig Selbstgefällig. Er hatte ein leicht schiefes Grinsen, das aber dennoch irgendwie charmant wirkte. „Wieso?“ das war alles, was sie zu sagen in der Lage war.
„Weil Gott dich liebt, Rachel. Wie jeden Menschen auf diesem Planeten. Nur leider entscheiden sich nicht alle so wie du.“ „Gott liebt mich?“ Der Fremde nickt. Rachels Ton wird immer lauter. „Sag mal hast du sie noch alle? Wo bitte war denn seine Liebe als mein Vater mich vergewaltigte? Wo war seine Liebe, als ich in der Psychiatrie war? Wo war er oder wo warst du, als ich zweimal versucht hab, mich umzubringen?“ „Rachel, Kind – beruhige dich doch! Denkst du etwa, dass wir genügend Engel haben, um jede Tragödie auf der Welt zu verhindern? Solche Sachen müssen nun mal passieren. Sie gehören zu eurem Leben dazu. Schließlich ist die Erde nicht der Garten Eden!“ fauchte er zurück. Sie lehnte sich zurück und betrachtete den Fremden. Er wirkte sympathisch, nicht wirklich vollkommen, sondern mit vielen Mängeln, aber vielleicht waren sie es auch, die ihn so anziehend wirken ließen. Er hatte zerzaustes, schwarzes Haar, das ihm locker in die Stirn fiel, haselnussfarbene Augen, eine seltsame Mischung aus braun und grün, und trug ein Jackett mit einer passenden Hose aus dunkelrotem Samt. Dazu ein schwarzes Oberhemd. Er wirkte sehr elegant, wenn Rachel sonst Anzugtypen verabscheute. Ihr Vater hatte in einer Bank gearbeitet und jeden Tag Sakko und Schlips getragen.
„Wer bist du eigentlich? Und woher weißt du meinen Namen? Und.. was willst du von mir?“ „Na, na.. alles nach der Reihe, meine Liebe. Zuerst mal steht unten dein Name an der Klingel, ich kann ja wohl lesen.“ Grinste er frech. „Aber ich habe ihn auch so gewusst. Doch wo sind nur meine Manieren?“
Er gebot ihr mit einer Geste seiner rechten Hand, ihm nicht zu nahe zu kommen, dann bäumte er sich auf, wenn man es so nennen konnte. Und aus seinem Rücken ragten plötzlich… Flügel! Riesige, weiche, bauschige Flügel, starke Schwingen, weiß, wie die Wolken am Himmel. Rachel fiel wortwörtlich die Kinnlade herunter. „Was bist du?“ fragte sie den Fremden. „Ich bin – der Metatron.“ Er sprach mit einer sehr eindrucksvollen Stimme, und hob theatralisch seine Arme, seine Flügel breiteten sich aus, und drohten, Rachels Regal umzuwerfen. Rachel war so fassungslos, das ihr die Sprache wegblieb. Sie wusste, was der Metatron war. Sogar sehr gut. Sie hatte nicht nur die Bibel studiert, sondern auch alles, über die Hierarchie im Himmel, sie wusste alles, über die Diener des Lichts und die Diener der Dunkelheit, über den Morgenstern, Adams erste Frau, Lilith, den ersten Krieg, der im Himmelsreich entbrannte, bevor Gott Adam erschaffen hatte. Der Metatron war der Überbringer von Gottes Nachrichten, der höchste Engel, ein Seraphim. Nur konnte sie einfach nicht fassen, dass das alles tatsächlich wahr sein sollte…