Hermine wird morgens, kurz bevor es Zeit ist aufzustehen, davon wach, daß Helena an ihr Fenster klopft. Hermine öffnet, nimmt den Brief entgegen und während Helena etwas knabbert, zieht Hermine sich mit dem Brief wieder in ihr noch warmes Bett zurück und liest...
Sehr geehrte Miss Granger,
Ich sehe mich gezwungen, ein paar Dinge doch etwas konkreter zu erläutern, als ich es vorhatte.
Ich bin es gewohnt, so dicht an meinen Tränken zu stehen, wie möglich - aber da stehen bei diesem Projekt nun einmal relativ häufig Sie, da ein Nebeneinanderstehen an dem Kessel in meinem Labor aus den Ihnen bekannten, gegebenen Umständen nur schwierig zu bewerkstelligen ist. Wir könnten höchstens die Arbeitsflächen umstellen, was ich aber, wenn möglich, vermeiden möchte.
Prinzipiell ist es kein Problem, Ihnen im wahrsten Sinne des Wortes "über die Schulter" zu sehen. Meine Verwirrung bezieht sich selbstverständlich nicht auf Ihre Person, sondern allein auf die Tatsache, daß dort überhaupt ‚irgendeine' Person steht.
Miss Granger, im Unterricht kann ich mich auf dutzende Vorgänge gleichzeitig konzentrieren und es gibt wohl kaum etwas, das mich dort aus der Ruhe bringen könnte. Aber in meinen Forschungen, bin ich in einem Maße auf meine Arbeit konzentriert, daß jede auch noch so kleinste Abweichung meiner gewohnten Umgebung die Automatismen die ich mir in sechzehn Jahren in diesem Labor angeeignet habe, unbrauchbar machen.
Ich setze sämtliche mir zur Verfügung stehenden Sinne als Meßinstrumente ein. Ich sehe, fühle beziehungsweise taste, rieche, schmecke und höre während des Prozesses des Brauens ununterbrochen. Es mag so aussehen, als stünde man einfach nur vor dem Kessel, aber es ist ständig der gesamte Körper gefordert.
Mit den Augen sieht man Konsistenz, Farbe, Rauchentwicklung, aufsteigende Blasen, Schaum und anderes.
Mit den Fingern fühlt man die Viskosität des Trankes oder die korrekte Vorbereitung der Zutaten, fühlt beim Umrühren den Widerstand des Trankes, die Zähigkeit oder Flüssigkeit.
Mit der Haut, speziell der des Gesichtes, der Handinnenflächen und der empfindlichen Innenseite der Handgelenke, fühlt man, wie sich die Luft über und um den Kessel verändert. Feuchtigkeit, Hitze, Brennen, Trockenheit - all dies kann auftreten.
Die Wichtigkeit des Geruches ist offensichtlich. Man erreicht irgendwann einen Punkt, an dem man sogar riechen kann, ob der Trank sich zu einem Gift entwickelt oder nicht.
Schmecken kann man einen Trank nicht nur, wenn man davon mit einem Löffel etwas zu sich nimmt - wovon ja oftmals abzuraten sein dürfte -, sondern auch wenn man neben dem Kessel dicht bei den aufsteigenden Schwaden steht.
Selbst das Hören hat eine weitaus wichtigere Funktion als auf den ersten Blick offenbar wird.
Werden diese Meßinstrumente mit "falschen Werten" irritiert, wirft mich das aus dem gewohnten Gleichgewicht.
Wenn Sie nun vor mir vor dem Kessel stehen - zwischen mir und dem Trank - dann sehe ich Sie, weil Sie schlicht in meinem Blickfeld stehen, dann fühle ich Sie, weil ich, um einen Blick in den Kessel werfen zu können, zwangsweise dicht hinter Sie treten muß, dann rieche ich statt des Trankes Sie, aus den schon genannten Gründen, dann kann ich Sie, wenn der Trank sich gerade in einem eigentlich hervorragenden Zustand befindet - der aber in diesem Fall dann gänzlich ungeeignet ist, weil sein Dampf als Träger dient - sogar schmecken. Daß ich, anstatt den Fortgang des Trankes zu hören, von Ihrem Atem und Ihrem permanenten leisen, kaum hörbaren, offenbar unbewußten Summen abgelenkt bin, ist dann schon fast als Nebensächlichkeit zu nennen.
Verstehen Sie nun, Miss Granger, warum ich mit Ihnen über derlei nicht einfach so sprechen kann? JEDEN dieser Punkte könnte man mir als zweideutig, verwerflich, anrüchig oder sogar unehrenhaft auslegen, was ich in höchstem Maße als unangenehm empfinde... denn es steckt nichts Unmoralisches dahinter! Darüber sprechen zu wollen, hätte gehießen, Situationen erklären zu müssen, in denen es eigentlich nichts zu erklären geben sollte, außer der Gegenüber heißt vielleicht Minerva-ich-achte-auf-die-moralische-Korrektheit-im-Umgang-mit-meinen-Löwenbabies-McGonagall. Aber ich entnehme Ihrem Brief zu meinem großen Entsetzen, daß sogar Sie mir seltsame Absichten unterstellen!
Ich arbeite in meiner Forschung seit sechzehn Jahren alleine und ich tue dies mit meinem Verstand und mit meinen Sinnen. Und letztere sind - und das meine ich selbstverständlich NICHT in einem zwischenmenschlichen, sondern rein beruflichen Zusammenhang - von Ihnen erfüllt, wenn Sie mit offenen Haaren vor mir stehen und auf eine Art und Weise nach Vanille duften, daß man IHNEN seltsame Absichten unterstellen könnte (!), oder mein Magen sich meldet, weil drei Meter hinter mir eine Schale mit Ingwer-Gebäck steht - das übrigens ebenfalls den kompletten Raum mit seinem Duft belegt. Ich werde einige Absätze später noch einen weiteren Grund nennen, warum ich das Gebäck nicht im Labor haben möchte! Stellen Sie sich einfach vor, Sie müßten einen Aufsatz schreiben, während vor ihrer Nase permanent ein Hauself singend und steppend auf und ab geht und ihnen alle fünf Minuten einen gelben Punkt auf die Nase malt...
Meine komplette Konzentration, die bei unserer Arbeit liegen sollte, richtet sich zwangsläufig auf Sie, weil Sie das ‚neue Element' in meiner Arbeit sind. Da ist es kein Wunder, daß ich fahrig wirke (den Begriff ‚tollpatschig' verbitte ich mir!).
Ich kann Ihnen versichern, daß meine Sinne auf ähnliche Weise verwirrt wären, wenn Sie häßlich wie die Nacht wären, stinken würden wie ein toter Biber und Sie anstelle der Plätzchen gequollene Linsensuppe mit ins Labor gebracht hätten.
Nur würde ich mich angesichts solcher Umstände dann obendrein auch noch unwohl fühlen...
Miss Granger, im Prinzip sind Sie - entgegen meiner anfänglichen Bedenken und abgesehen davon, daß ich mich schlicht an Ihre Gegenwart in meiner bisher allein bestrittenen Domäne gewöhnen muß - eine Bereicherung für meine Arbeit, wie ich es erhofft hatte, denn durch Ihre Gedankengänge und durch die Tatsache, daß Sie nicht durch in langjähriger Arbeit festgefahrene Gedankenmuster von bestimmten Gegebenheiten ausgehen, bringen Sie einigefrische Ideen und Schlußfolgerungen in dieses Projekt, die ich alleine vielleicht nicht - oder nur in sehr viel längerer Zeit - zustandegebracht hätte. Der Gedankenaustausch mit Ihnen während der Arbeit kommt einem sehr produktiven, fachlichen Zuwerfen von logischen Bällen gleich...
Mit dem Angebot, Sie an diesem Projekt mitarbeiten zu lassen, habe ich offenbar den Fisch Hermine Granger ins Wasser geworfen... Dieses Projekt liegt Ihnen - das ist unbestreitbar.
Da Sie zustimmen (womit ich, wenn ich ehrlich bin, nicht gerechnet habe - ich hatte heftigste Diskussionen auf mich zukommen sehen) sich geruchsmäßig zu neutralisieren, denke ich, daß ich Ihnen als Zeichen meines guten Willens für eine ruhige Zusammenarbeit ebenfalls einen Schritt entgegengehen werde.
Wenn es Ihrer fürsorglichen Seele Ruhe beschert, werde ich in Zukunft im Labor auf den Kaffee verzichten und gestatte Ihnen - da schwarzer Tee in der Konsistenz in der ich ihn zu trinken pflege ebenfalls durch Ihr Gesundheitsraster hindurchfallen dürfte - stattdessen einen Kräutertee auszusuchen, den wir dann für die Laborzeit aufbrühen können (kommen Sie nicht auf die Idee, mir irgendeinen Früchtetee andrehen zu wollen und suchen Sie um Merlins Willen etwas ohne Süßholz aus. Ich hasse Süßholz..)
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal auf meine Mahlzeiten zurückkommen. Ich habe - durch meinen Beruf zwangsläufig entwickelt - eine starke Affinität zu allem, was meine Sinne positiv anregt. Deshalb esse ich - auch wenn die Gerüchte anderer Art sind - sehr gerne. Zu gerne... ich hätte bei gleichgebliebener Größe inzwischen das Körpergewicht von Hagrid, wenn ich jeder Versuchung nachgeben würde... das ist der zweite Grund, warum ich kein Gebäck im Labor dulde!
Was Ihr Einschlafen an meinem Schreibtisch betrifft, haben Sie mir wieder einmal ein Musterbeispiel von gryffindorscher Arroganz geliefert... Warum bedeutet die Tatsache, daß ich verlange, daß Sie Ihren Schlaf so regeln, daß Ihnen nicht während der Arbeitszeit die Augen zufallen, automatisch, daß ich Sie wecken muß, wenn es dann doch einmal passiert ist? Miss Granger, ich kenne Sie, so denke ich, gut genug, um zu wissen, daß Sie dort nicht aus eigenem Wunsch einfach ein Nachmittagsschläfchen gehalten haben, sondern daß es an gravierendem Schlafmangel liegen muß, wenn Sie beim Übertragen der Ergebnisse einschlafen. Ich hätte Sie in diesem Zustand im besten Fall einfach nur wegschicken können, denn so übermüdet kommen Sie mir nicht an den Kessel! Und da ich selbst nicht an den Schreibtisch mußte, war es schlicht nicht notwendig, Sie zu wecken...
Außerdem konnte ich in dieser Zeit in Ruhe ihre Tasche durchwühlen...
Nein, natürlich nicht... aber ich dachte, da Sie das sicher ohnehin vermutet haben... denn - ich meine - wenn Sie mir schon mit der Anordnung der Kekse Fallen stellen, um mir nachweisen zu können, daß ich mir diese unrechtmäßig aneigne (nur um dann gleichzeitig zu sagen, daß sie dazu gedacht waren, daß man davon nimmt)... was trauen Sie mir dann sonst noch alles zu? Ach ja - ich vergaß - Sie nähmen offenbar in Kauf, daß ich mich Ihnen in unangebrachter Weise nähern könnte... bei Merlin - diese Forschungen müssen Ihnen verfluchtviel bedeuten, wenn Sie dafür diesen Professor Snape in Kauf nehmen der ich vor Ihrem inneren Auge bin. Ich wußte, daß mein Ruf unter den Schülern schlecht ist - aber das hier übertrifft selbst meine düstersten Vermutungen...
Wie kommt es dann gleichzeitig, daß Sie es augenscheinlich als etwas Negatives ansehen, wenn ich privaten Gesprächen aus dem Wege gehe? Das müßten Sie doch eigentlich als etwas sehr Positives empfinden. Aber selbst wenn meine Einstellung zu dem Thema "plaudern" anders wäre... Miss Granger, ich bin Lehrer und einige wenige Dinge mehr - abereine private Person Snape gibt es nicht. Es gäbe also nichts, worüber man "plaudern" könnte. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mensch so "privat" sein kann, daß er stundenlang über nichts als sich selbst reden kann... ich habe es oft gesehen - begriffen habe ich es nie...
Lassen Sie uns fachlich weiter so agieren, wie wir es bisher getan haben - denn das funktioniert meiner Meinung nach erfreulich gut. Jedes ‚mehr' wäre ein ‚zu viel'...
Mit freundlichen Grüßen
Severus Snape
PS. Ich danke Ihnen trotzdem für die Ingwer-Plätzchen (die tragischerweise in der Tat eine geheime Leidenschaft und eine Versuchung sind, der ich nicht widerstehen kann - und ich schwöre Ihnen Mord und Totschlag, wenn Sie dies dem Schulleiter oder sonst einer Seele verraten...) und habe keinen Moment daran gedacht, sie zurückzuschicken...
Und so unverschämt das Fläschchen auch sein mag, kann ich es a) als Retourkutsche sehr wohl verstehen und tolerieren und werde ich es b) möglicherweise wirklich einmal ausprobieren... wollen wir doch mal sehen, wieviele Säulen wir noch wegschlagen können, bevor das Dach einstürzt...