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Der letzte Tag
Ein letztes Mal erschien die Sonne am Horizont.
Nach einer schlaflosen Nacht erhob er sich aus seiner Nachtstätte. In einem Bett hatte er schon lange nicht mehr gelegen. Den Hunger, den er seit Tagen verspürte, unterdrückte er.
Ein letztes Mal tauchte die Sonne die Umgebung in ein angenehmes Licht.
Gedanken flogen wirr in seinem Kopf umher. Nach diesem Tag würde nichts mehr so sein wie vorher. Lange schon hatte er gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Dennoch wäre es ihm lieber gewesen, wenn er noch etwas mehr Zeit gehabt hätte. Zeit, um sich von Menschen zu verabschieden, die ihm wichtig waren. Zeit, um manchen Menschen zu sagen, dass er sie mehr geliebt hat als er je im Stande war zu beschreiben.
Ein letztes Mal erhellte die Sonne den Tag.
Die letzte Schlacht war schon lange vorbei, doch der Krieg war weiter gegangen. Bis zu diesem Tag. Aber heute würde der Krieg enden. Er wusste, dass er dem Krieg ein Ende setzen konnte. Dem Krieg, den er mitverschuldet hatte. Dem Krieg, in dem er auf beiden Seiten eine wichtige Rolle gespielt hatte. Dem Krieg, in dem es nicht mehr nur darum ging, dass das Böse besiegt wird, sondern auch darum, die Unschuld zu beweisen.
Ein letztes Mal sandte die Sonne ihre heißesten Strahlen zur Erde.
Wenn er diesen Tag doch nur hinauszögern könnte! Doch es gab bereits genug Opfer zu beklagen. Und er wusste, was er zu tun hatte. Entschlossen stand er auf. Noch einmal würde er zu dem Mann gehen, an dessen Seite er treu gestanden hatte, dem er vertraut hatte, für den er sogar zum Mörder wurde. Noch einmal würde er vor ihm knien und ihm seine ewige Treue schwören.
Ein letztes Mal folgte die Sonne ihrem täglichen Lauf nach Westen.
Ungesehen von so vielen Menschen in seiner Nähe verließ er sein Versteck. Sein Ziel kannte er nur zu gut. Doch der Weg dorthin schien länger zu sein als jemals zuvor. Er wagte nicht, ihm in die Augen zu blicken. Er wusste, dass er sich dadurch verraten hätte. Auf den kalten Boden sehend, kniete er vor seinem ehemaligen Herrn. Ein Hand an seiner Schulter ließ ihn wieder aufstehen und sich umwenden.
Ein letztes Mal sank die Sonne immer tiefer.
Der Dunkle Lord vertraute ihm noch immer. Er hatte seine Aufgabe gut gemacht, seine Rolle gut gespielt. Die anderen blickten ihn ehrfürchtig an. Er schluckte, als er mit einer langsamen Bewegung nach seinem Zauberstab griff. Gedanken rasten durch seinen Kopf. Noch hatte er die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, für sich, für sein Leben. Ein Leben als Feigling, als der er so oft beschimpft worden war. Nein, er war kein Feigling. Eine Drehung. Zwei Worte. Ein grüner Lichtstrahl. Und dann Stille. Für den Bruchteil eines Augenblicks herrschte diese befreiende und doch erdrückende Stille. Er hatte es getan. Das, womit niemand gerechnet hatte, am allerwenigsten der Dunkle Lord. Ein Gefühl des Glücks, das er schon so lange nicht mehr gefühlt hatte, durchfuhr ihn, ehe das grüne Feuerwerk von Todesflüchen der Todesser auf ihn niederprasselte.
Ein letztes Mal verschwand die Sonne am Horizont.
Ein letztes Mal schloss er die Augen, um sie nie mehr zu öffnen.
Es war der letzte Tag von Severus Snape.