ich bin Mitglied der Scriptoren und teile mir hier auf Fantaxy den Account mit John Xisor.
Die Idee zur Fanfiction basiert auf dem Wunsch von AllegroAssai, die eine Geschichte mit Severus und Harry und/oder Dumbledore haben wollte, wenn möglich nahe am Kanon und inklusive einer „Snape’schen Heulszene“, die ich dezent eingefügt habe. Aus den gewünschten „paar hundert Wörtern“ wurde leider nichts. Es sind ein paar tausend. Ich hoffe, es gefällt dennoch oder gerade deswegen
Liebe Grüße und viel Spaß
Muggelchen
Autor: Muggelchen
Charaktere: Harry, Severus, Albus
Genre: Drama, Oneshot, „Lost Scene“
Handlungszeit: Erste Hälfte des 6. Schuljahres
Disclaimer: Charaktere und Orte gehören J.K. Rowling. Die Handlung gehört mir.
Wörter: 6.751
Beta: John Xisor
Inhaltsangabe: Neugier ist keine Sünde. Das sagte einmal Albus Dumbledore. Harry ist der gleichen Meinung. So nutzt er die Gunst der Stunde, um im Denkarium des Direktors Informationen über Snape ausfindig zu machen, weil er sich über dessen Rolle noch immer nicht im Klaren ist. Mit Entsetzen wird er Zeuge eines Gesprächs mit gewichtigem Inhalt. Für Harry steht fest, dass er sofort mit Snape über das Gesehene sprechen muss.
Die Lust am Schauen
Es gibt eine Menge Gelüste auf dieser Welt. Eine Winzigkeit davon ist von bösartiger Natur, wie die Begierde nach dem Schwarzmagischen, der Bellatrix verfallen ist. Manch einer empfindet eine große Lust daran, sich ins Rampenlicht zu stellen, so wie Gilderoy Lockhart, bei dem die Profilierungslust längst zur Profilierungssucht geworden war. In dieser Geschichte geht es jedoch um eine harmlose Lust, die aus purer Neugier geboren wurde.
In seinem fünften Schuljahr war es, als Harry die zurückgelassenen Erinnerungen von Professor Snape ansah und dabei erwischt worden war. Das stellte das Ende der gemeinsamen Okklumentik-Stunden dar sowie eine Verhärtung der Fronten zwischen Lehrer und Schüler.
„Macht’s Spaß?“, hatte Snape damals gefragt, nachdem er ihn aus dem Denkarium gerissen hatte. „Gut amüsiert, Potter?“
Obwohl er gern etwas anderes gesagt hätte, sich erklären wollte, hatte Harry nur erwidert: „N-nein.“
„Witziger Kerl, Ihr Vater, nicht wahr?“
Witzig hatte Harry das beileibe nicht gefunden. Was Snape nicht wusste und Harry sich schon gar nicht zuzugeben traute, war die Tatsache, dass er nicht für seinen Vater Partei ergreifen konnte. In Snapes Erinnerung verhielt sich James vergleichsweise wie Draco, war boshaft und hänselte seine Mitschüler, angestachelt von Sirius.
Noch Wochen später verglich Harry in Gedanken die Situation aus der Erinnerung und verlegte sie zur besseren Analyse in die heutige Schulzeit. Dabei kam er zu dem Schluss, dass der junge Snape Ähnlichkeiten mit Luna und Neville aufwies. Mitschüler, die ständig von anderen, bevorzugt von Slytherins, verhöhnt wurden – und die Harry verteidigte, wenn er so etwas miterlebte.
Unrecht war etwas, das Harry ganz und gar nicht mochte. Schon mit elf Jahren fand er es ungerecht, dass Draco Ron nur aufgrund der finanziellen Situation als unwürdig betrachtete. Genauso unfair war es von Snape, das eigene Haus zu bevorzugen, obwohl Harry nicht entgangen war, dass Professor McGonagall ebenfalls eine Vorliebe für die Gryffindors hegte, weil sie weder Ron noch ihn der Schule verwies, nachdem beide mit dem Auto und nicht mit dem Zug gekommen waren. Er konnte sich im Nachhinein nicht einmal mehr daran erinnern, ob sie dafür überhaupt eine Strafe erhalten hatten. Direktor Dumbledore bescherte den Gryffindors im ersten Jahr den Hauspokal, indem er einige letzte Punkte vergeben hatte, die scheinbar so genau abgezählt waren, dass der Sieg ganz knapp ihnen gehörte. Snape war also nicht der Einzige, der ein Haus bevorzugte, leuchtete Harry ein. Der Grund, warum er das Lieblingsopfer des Hauslehrers der Slytherins darstellte, war nach der Einsicht in Snapes Erinnerung klar. Nicht wenige Menschen hatten Harry versichert, er würde wie sein Vater aussehen. Harry glaubte, Snape würde tagtäglich allein aufgrund von Harrys Aussehen an die Quälereien durch James Potter erinnert werden und deswegen ließ Snape all seinen Hass an dessen Sohn aus. Auch das war unfair, aber Harry wollte alle Zusammenhänge besser begreifen.
Im Gegensatz zu dem, was Hermine über Ron gesagt hatte, passte Harrys gesamtes Gefühlsspektrum nicht auf einen Teelöffel. Mit Leichtigkeit könnte er einen Sechzigtonner beladen. Jetzt, nach dem fünften Schuljahr, gab es so viel, das Harry verkraften musste. Der Tod von Sirius belastete ihn am meisten, obwohl er noch immer nicht den von Cedric überwunden hatte. Die bösartigen Artikel vom Tagespropheten, die nur langsam die Richtung wechselten und Harry endlich nicht mehr öffentlich als Spinner abtaten, wie das gesamte Jahr zuvor, lagen ihm ebenfalls noch schwer im Magen. Dann natürlich Voldemort. Die Angst vor ihm war ständig präsent. Harry wünschte sich, er hätte weiterhin Okklumentik-Unterricht, dann müsste er nicht befürchten, dass Voldemort seine Gedanken ausspionierte. Mit diesem Wunsch kam es, dass er oft an Snape denken musste und an dessen Wutausbruch. Dass er einen Fehler gemacht hatte, das sah Harry ein. Sich dafür zu entschuldigen fiel ihm jedoch schwer, denn Harry ahnte, dass er ins Stocken geraten würde. Mit Sicherheit würde ihm vor lauter Aufregung rausrutschen, dass er Snapes Abneigung gegen James verstehen konnte. Wie Snape darauf reagieren würde, stand in den Sternen – und Harry wollte es nicht darauf ankommen lassen.
Harry glaubte, Snape einigermaßen zu verstehen. Es widerstrebte ihm jedoch, nur aufgrund einer einzigen Situation, die er nicht einmal zu Ende sehen konnte, für Snape die Lanze zu brechen. Es reichte nicht zu wissen, dass er ein Mitglied des Phönixordens war. Um Snapes allgemeine Verbissenheit und die Feindseligkeit ihm gegenüber vollends zu begreifen und um den Zaubertränkelehrer präzise beurteilen zu können, müsste Harry mehr von ihm erfahren. Ein persönliches Gespräch mit dem Tränkemeister war von vornherein zum Scheitern verurteilt, aber es gab noch eine andere Option, dachte Harry. Schon war sie geboren: Die Lust, mehr Erinnerung von Snape zu sehen.
Das sechste Schuljahr begann. Recht früh offenbarte ihm Dumbledore, dass er Harry einen speziellen Unterricht bieten wollte. Auf die Frage, in was Dumbledore ihn persönlich unterrichten wollte, antwortete dieser nur: „Ein bisschen hierin, ein bisschen darin.“ So kam es, dass sich Harry häufig nach dem normalen Unterricht in Dumbledores Büro einfand. Manchmal musste er auf den Direktor warten. War das der Fall, betrachtete Harry in Ruhe die vielen Gemälde der Rektoren oder die unzähligen, seltsamen Gegenstände, die der Rektor in seinem Büro aufbewahrte.
Schon im vierten Schuljahr hatte Harry erfahren, dass und vor allem wo Dumbledore ein Denkarium aufbewahrte. Gelegenheit macht Diebe, besagte eine Redewendung. Die Worte des Direktors echoten in Harrys Gedanken: „Neugier ist keine Sünde. Aber wir sollten sie mit Umsicht walten lassen.“
Harry war umsichtig. Lange genug hatte er sich während der Ferien Gedanken gemacht. Jetzt war die Gelegenheit gekommen. Harry war eine halbe Stunde zu früh. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass Dumbledore ihn nicht stören würde.
Unter den wachen Augen der angeblich schlafenden Rektoren in den unzähligen Gemälden öffnete Harry das Versteck. Wie erhofft schwammen im Denkarium unzählige Erinnerungen. Mit seinem Zauberstab berührte Harry hier und da einen der silbernen Fäden, die in der Flüssigkeit schwammen, so dass ähnlich wie ein Hologramm eine dreidimensionale Vorschau gezeigt wurde. Harry wurde fündig. Eine Erinnerung versprach interessant zu werden. Snape und Dumbledore. In diese Erinnerung tauchte Harry ein.
Es war, als würde er fallen. Mittlerweile hatte Harry eine gewisse Übung mit Denkarien. Er hatte weder Angst noch befürchtete er, sich verletzen zu können. Er landete hier, im Büro des Direktors, mit dem winzigen Unterschied, dass Dumbledore und Snape in eine hitzige Diskussion verwickelt waren, der Harry als stiller Beobachter beiwohnte.
„Das kann nicht dein Ernst sein!“, blaffte Snape den Direktor an. Die persönliche Anrede hielt Harry vor Augen, wie eng die beiden befreundet sein mussten.
„Severus, ich habe dir eine Aufgabe gegeben und bitte dich, sie beizeiten zu meiner Zufriedenheit zu erledigen.“
Dumbledore sprach ruhig. Im Gegensatz zu ihm schien Snape schockiert. Die Atmung des Tränkemeisters war schneller geworden, die Lippen zusammengepresst. Es war nicht der Ausdruck von Wut auf Snapes Gesicht, den Harry einmal selbst miterleben musste. Snapes Miene zeugte von nie gesehener Fassungslosigkeit. Mit einem Male begann Snape, den Kopf zu schütteln.
„Nein!“, warf er dem Rektor ins Gesicht. „Ich mach es nicht!“
„Severus …“ Dumbledores väterlich gehaltene Stimme machte Snape wütend.
„Das kannst du nicht von mir verlangen. Ich weigere mich!“
Dumbledore schien überrascht. Er hob beide Augenbrauen und auf seinen Lippen war ein Schmunzeln zu sehen „Das ist das erste Mal, Severus.“
„Es gibt immer ein erstes Mal“, wollte Snape dagegenhalten, doch es misslang, weil Dumbledore nur amüsiert darüber lachte. „Ich finde, es gibt nichts zu lachen, Albus.“
„Sieh es nicht so verbissen, mein Freund. Das hier“, der Direktor hielt seine fluchgeschwärzte Hand in die Höhe, „ist sowieso mein Todesurteil.“
„Du hast mich nicht gelassen! Ich hätte damit beginnen können, nach einem Mittel zu suchen, damit …“
Dumbledore unterbrach: „Du hast selbst gesagt, es wäre nicht sicher, ob man diesen Fluch aufhalten könnte. Ich plane lieber konkret, Severus. Wenn mein Tod schon vorbestimmt ist, dann soll er einen Zweck erfüllen.“
Snape war mundtot gemacht worden. Der Tränkemeister war blasser denn je. Seine Beine wollte ihn nicht mehr tragen, weshalb er auf einem Chintz-Sessel Platz nahm. Für Harry war es seltsam anzusehen, den sonst so Furcht einflößenden Mann zerschlagen und in sich zusammengefallen dort sitzen zu sehen. Snape war nach vorn gebeugt, stützte sich mit den Unterarmen auf den Schenkeln ab und spielte aufgebracht mit einem Nietnagel am Daumen.
Die Stimme des Direktors unterbrach die angespannte Stille. „Ich habe dich so früh in meine Pläne eingeweiht, damit du dich an die Situation gewöhnen kannst.“
„Daran kann ich mich nicht gewöhnen“, keifte Snape zurück, doch es war vergebene Liebesmüh, sich gegen Dumbledore aufzulehnen. Das wusste Snape genauso gut wie Harry. „Was soll aus mir werden?“ Snape schüttelte langsam den Kopf. „Was soll ohne dich aus Potter werden?“
„Mach dir keine Sorgen. Ich habe mich seiner angenommen und unterrichte ihn seit Kurzem in einigen sehr wichtigen Dingen.“
„Okklumentik?“
„Nein, das nicht.“
Snape schnaufte. „Wäre auch vergeblich“, murmelte er, bevor er tief durchatmete. Harry bemerkte, dass der Tränkemeister zitterte, dabei die Augen schloss und sich einmal mit einer Hand über das Gesicht fuhr. Ohne den Direktor anzublicken, fragte Snape: „Wann soll ich es tun?“
„Darüber werde ich dich rechtzeitig informieren.“
Snape nickte. Mit böse funkelnden Augen blickte er auf zu Dumbledore. „Du weißt, wenn ich deinen Wunsch erfülle, werde ich dadurch meine Seele spalten.“
Harry bekam es mit der Angst zu tun, als sich ihm mit dieser Information offenbarte, was Dumbledore von Snape verlangte, doch wieso? Und vor allem wann?
„Das wird nicht passieren“, entgegnete Dumbledore. „Ich habe ein wenig nachgelesen. Bei einem Todgeweihten richtet ein Avada nicht denselben Schaden an.“
„Oh, wie nett, dass du dich erkundigt hast“, belferte Snape den Direktor sarkastisch an. „Jetzt fühle ich mich schon gleich viel besser!“
Natürlich stimmte das nicht. Harry konnte sehen, wie schwer Snape mit dieser Situation zurechtkam. Er war sichtlich verzweifelt. Wenn das, was Harry sich bisher zusammenreimen konnte, tatsächlich stimmte, dann konnte er bestens mit Snape mitfühlen.
„Was ist mit Potter, wenn du nicht mehr bist?“, fragte Snape und Harry war erstaunt, dass dem Zaubertränkelehrer offenbar an ihm lag.
„Harry wird seine Aufgabe erfüllen und Voldemort zur Strecke bringen. Und du wirst deine Aufgabe erfüllen, wenn es soweit ist. Jeder bringt sein Opfer, Severus. Jeder.“
Harry konnte sehen, wie Snape die Zähne zusammenbiss, denn die Muskeln am Kiefer spannten sich an. Am Ende gab der Tränkemeister nach und nickte.
Die Erinnerung war zu Ende.
Nachdem er das Denkarium verlassen hatte, schaute Harry sich um. Dumbledore war noch nicht da und die Rektoren auf den Gemälden gaben wie immer vor zu schlafen. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass Dumbledore zu spät war, was meistens bedeutete, dass der Privatunterricht ausfiel. Harry eilte so schnell er konnte zur Tür. Auf den Stufen nach unten rannte er unverhofft in den Direktor hinein.
„Harry!“ Professor Dumbledore ergriff Harrys Oberarme, musterte das Gesicht des Schülers und schien dort etwas zu sehen, was ihm nicht gefiel. „Alles in Ordnung, Harry?“
„Ja“, log er dem Direktor ins Gesicht, „ich habe nur geglaubt, Sie kommen heute nicht. Deshalb wollte ich … Ich wollte gehen.“
„Nun, es ist wahr, dass ich unseren heutigen Termin absagen muss.“ Mit einer Hand zog Dumbledore einen Zettel aus der Tasche und reichte ihm Harry. „Das ist die Entschuldigung, falls dich jemand zu dieser späten Stunde auf den Weg in den Gemeinschaftsraum antreffen sollte.“
Harry nahm den Zettel entgegen, vermied es jedoch, Dumbledore in die Augen zu sehen. „Danke, Sir.“
„Ist wirklich alles in Ordnung?“, hakte der alte Zauberer nach. Er ahnte etwas, das vermutete jedenfalls Harry.
„Alles in Ordnung. Gute Nacht, Sir.“
Schon war Harry auf dem Weg nach unten. Nachdem er die Wasserspeier passiert hatte und sich der Weg zum Direktorenbüro wieder schloss, blieb Harry einen Moment lang stehen. In Gedanken spielte er immer wieder das Szenario durch, welches er in Dumbledores Erinnerung gesehen hatte. Zeitlich konnte er das Geschehen sogar ein wenig einordnen. Das Gespräch zwischen Dumbledore und Snape muss kurz nach Schulbeginn stattgefunden haben, etwa vor sechs Wochen. Harry wollte nicht, dass Dumbledore sterben sollte. Und Snape, das hatte Harry erfahren, wollte das auch nicht. Sein Weg führte ihn daher nicht in den Gryffindorturm, sondern in die Kerker.
Endlich bei Snapes Räumlichkeiten angelangt, klopfte Harry an die Tür. Es regte sich nichts und so klopfte Harry ein zweites Mal, diesmal wesentlich lauter.
„Mach schon auf!“, knurrte Harry ungeduldig, trat dabei einmal gegen die Tür. „Mach endlich auf!“
Mit der geballten Faust hämmerte Harry gegen die Tür, als ginge es um Leben und Tod. Genau genommen ging es auch darum, nur war der Todesfall nicht akut, sondern abgekartet. Harry wollte nicht in den Gryffindorturm gehen. Er könnte mit diesen Informationen sowieso kein Auge zumachen. Beide Hände legte Harry an die Tür zu Snapes Büro, während er die Augen schloss und nachdachte, wo der Tränkemeister sich zu dieser Zeit aufhalten könnte. Sicherlich ging er wieder die Flure ab, um Strafarbeiten zu verteilen und Punkte abzuziehen. So könnte Harry ihn finden. Er drehte sich und rannte los, doch weit kam er nicht. Harry stieß mit voller Wucht gegen einen Körper, fiel rücklings und landete auf dem Allerwertesten. Snape stand vor ihm, die Hände an die Hüften gestemmt und ein fieses Lächeln auf den Lippen.
„Zwanzig Punkte …“ Bevor Snape die Punkte abziehen konnte, hielt Harry ihm – noch im Sitzen – den Zettel von Dumbledore unter die Nase. Skeptisch kniff Snape die Augen zusammen und entriss Harry den Zettel mit einer flinken Bewegung seiner Hand. Während Snape die schriftliche Entschuldigung las, richtete sich Harry wieder auf. Mit dem Zettel wedelte Snape hin und her, als er sagte: „Das entschuldigt nicht dein Herumlungern vor meiner Tür.“
„Ich muss mit Ihnen sprechen.“
„Ich muss mit Ihnen sprechen, Sir“, verbesserte Snape. „Allerdings sehe ich keinen Grund für ein Gespräch.“
„Es geht um Professor Dumbledore.“
Snape runzelte die Stirn. „Was ist mit ihm?“
Harry blickte zur Tür. „Können wir drinnen reden?“
„Ich habe dir gesagt, ich will dich nie wieder in meinem Büro sehen, Potter!“
Ja, Harry erinnerte sich. Das hatte Snape gesagt, nachdem er ihn letztes Jahr aus dem Denkarium gezerrt und aus dem Büro geworfen hatte.
„Es ist wichtig, Sir!“ Snape sah gelangweilt aus, weshalb Harry deutlicher werden wollte. „Es geht um Ihren Auftrag.“ Jetzt gab es eine Regung in Snapes Gesicht, denn er bemühte wieder seinen Musculus frontalis, jenen Muskel, mit dem er gern die Augenbrauen hob – diesmal beide. „Sir, bitte! Sie müssen Dumbledore nicht ermor…“
Eine Hand mit schmalen, gelblich verfärbten Fingern blockierte die letzten Buchstaben. Snape hatte ihm die Hand vor den Mund gehalten. Mit einem Wutsch seines Stabes öffnete Snape die Tür zum Büro. Kurz darauf griff der Tränkemeister Harrys Umhang und zog ihn am Schlafittchen in den Raum hinein. Die Tür war in Null Komma nichts hinter den beiden verschlossen.
Drinnen blieb Snape regungslos stehen. Der Zauberstab in seiner rechten Hand war gesenkt. Harry atmete aufgeregt. Er wusste nicht, ob die Stille ein Zeichen dafür war, das Wort ergreifen zu dürfen. Immerhin war er Gryffindor, also nahm er all seinen Mut zusammen und sprach das an, was ihn beschäftigte.
„Es muss eine andere Lösung geben! Sie müssen Dumbledore nicht ermorden.“ Snape schnaufte verachtend, was Harry nicht daran hinderte, seine Meinung kundzutun. „Sie wollen es doch auch nicht. Warum wehren Sie sich nicht dagegen?“
„Woher …?“ Eine lange Pause folgte, bevor Snape sich fing und leise fragte: „Woher weißt du davon?“
Das war der unangenehme Teil, dachte Harry. „Ich habe in Dumbledores Büro die Erinnerung an das Gespräch gesehen.“
„Ah!“ Snape kam einige Schritte näher, sah an seiner Hakennase zu Harry herab. „Hast im wahrsten Sinne des Wortes deine Nase mal wieder in anderer Leute Angelegenheiten gesteckt. Wie ich sehe, wirst du alte Gewohnheiten einfach nicht los.“
„Das ist kein Moment, in dem Scherze angebracht sind!“, mahnte Harry mit harscher Stimme. „Es muss einen anderen Weg geben. Ich will nicht, dass Sie Dumbledore ermorden.“
„Glaubst du etwa, ich will das?“
„Sie scheinen jedenfalls nicht wirklich dagegen anzukämpfen.“
Mit einem Male spürte Harry eine Hand an seinem Hals. Snape drückte nicht zu, sondern wollte nur Angst machen.
„Du bist genauso wie dein Vater!“ Snape rümpfte die Nase, als hätte Ekel ihn überkommen.
Genug war genug, dachte Harry. Er stieß Snapes Hand weg – was ihm überraschenderweise gelang – und zeterte: „Können Sie nicht einmal in Ihrem Leben darüber hinwegsehen, wer mein Vater ist und was er Ihnen angetan hat?“ Mit der Lautstärke hatte Snape offenbar nicht gerechnet, denn er war einen Schritt zurückgegangen. Oder aber er hatte sich daran erinnert, dass Harry zu Spontanzaubern fähig war, besonders wenn er wütend war. „Sehen Sie mich dieses eine Mal nicht als Schüler, sondern als Verbündeten. Es geht hier um das Leben von Dumbledore, verdammt noch mal! Sie sind doch auch nicht begeistert von seiner Idee. Ich weiß es, ich habe es gesehen!“ Snape regte sich nicht, sagte nichts, so dass Harry anfügte: „Wenn ich bei Ihnen auf taube Ohren stoße, was ich mir eigentlich hätte denken können, dann muss ich eben selbst mit Dumbledore darüber reden! Ich habe kein Problem damit, sein Büro noch einmal auseinanderzunehmen.“
Nun geschah etwas, mit dem Harry niemals gerechnet hatte, denn Snape grinste. „Womöglich könnte ihn das sogar zur Besinnung bringen“, begann Snape, „aber die Entscheidung ist gefallen. Es ist längst zu spät.“
„Es ist nie zu spät!“, hielt Harry dagegen, woraufhin Snape nur seufzte.
„Warum hast du dir das überhaupt angesehen?“, wollte Snape wissen. „Ich denke nicht, dass Professor Dumbledore dir die freie Nutzung seines Denkariums gestattet hat.“
„Ich …“ Wie befürchtet kam Harry ins Straucheln. „Ich wollte mehr über Sie erfahren.“ Snape kniff seine Augen zusammen, woraufhin Harry schnell noch anfügte: „Sir.“
„Über mich?“, fragte Snape verdutzt nach.
„Sie sind Mitglied im Orden des Phönix. Ich vermute außerdem, dass Sie ein Todesser sind.“ Snape schien nicht einmal überrascht, doch Harry wollte seine Vermutung erklären. „Vor zwei Jahren, als Karkaroff mit Ihnen sprach und ich das zufällig gehört habe …“
„Als du gelauscht hast, meinst du wohl eher.“
Gelassen zuckte Harry mit den Schultern. „Ich habe …“ Harry hielt inne, denn plötzlich hatte er einen Geistesblitz. „Oh Gott, ist es deshalb? Sollen Sie Dumbledore ermorden, damit Voldemort von Ihrer Loyalität überzeugt ist?“
„Nenne nicht seinen Namen, du törichter Junge!“, zischte Snape.
Mit einer Hand strich sich Harry über die Stirn, entblößte dabei für einen kurzen Moment die zickzackförmige Narbe, die Snapes volle Aufmerksamkeit erhielt. „Kann man wegen Dumbledores Hand nicht irgendetwas unternehmen? Das muss doch zu heilen sein.“
Snape ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich, blieb dabei so gelassen, als würden sie nur über das Wetter reden. „Ich kann nicht nach einem Heilmittel forschen, wenn ich die Hand nicht wenigstens einmal gründlich untersucht habe.“ Snape nahm sich einen Stapel Pergamente, die Harry als Hausaufgaben der Schüler erkannte. „Und jetzt gehst du besser, Potter, sonst ziehe ich deinem Haus doch noch Punkte ab, Entschuldigung hin oder her.“
„Das war es?“ Die Enttäuschung konnte Harry nicht verbergen. „Sie werden nichts unternehmen?“
„Mir sind die Hände gebunden. Gute Nacht, Potter.“
„Ich glaube es einfach nicht!“ Harry wurde wütend und hatte gut Lust, nicht Dumbledores Büro in Schutt und Asche zu legen, sondern das von Snape. „Dann haben Sie sich also doch an den Gedanken gewöhnt? Fein, von mir aus!“ Es war ihm nicht entgangen, dass er bockig klang, aber das war Harry mittlerweile egal. „Wenn es Sie nicht interessiert, dann sollte ich mal ein Wörtchen mit Arthur Weasley oder Kingsley Shacklebolt reden.“
Harry drehte sich auf den Hacken, um das Büro zu verlassen, doch im gleichen Moment erhob sich Snape von seinem Stuhl und stürmte auf Harry zu. Mit beiden Händen umfasste der Lehrer Harrys Oberarme so kräftig wie eine Zange, genau wie damals, als er ihn aus der Erinnerung gezerrt hatte.
„Hast du den Verstand verloren?“ Snape schüttelte in mit jeder Silbe. „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“
„Nicht weniger als Sie selbst, Sir!“, blaffte Harry zurück.
„Verstehst du denn überhaupt nicht, um was es hier geht?“ Snape ließ von Harry ab. „Und von so einem begriffsstutzigen Bengel erhofft die Welt sich Erlösung? Na, das kann ja heiter werden.“
„Wie kann Ihnen das nur so egal sein?“ Es klang wie ein Vorwurf und Snape hörte das heraus.
„Das denkst du? Dass es mir egal ist? Du bist dümmer als ich dachte.“
„Ich dachte“, begann Harry resignierend, „wir beide gehen zu Dumbledore und reden ihm seine fixe Idee aus. Immerhin habe ich ein Wörtchen mitzureden. Ich bin der, von dem man erwartet, Voldemort …“
„Sag seinen Namen nicht!“, rügte Snape ein weiteres Mal.
„Dann eben ohne Sie, Sir. Ich finde bestimmt jemanden, der mir zuhören wird.“
Harry hatte seine Hand schon auf der Klinke, da hörte er Snape sagen: „Moment!“ Über seine Schulter blickend sah Harry, wie Snape einen Augenblick mit sich kämpfte. „Wir gehen zusammen zum Direktor, jetzt gleich!“
Ein Triumph! Harry hatte schon nicht mehr daran geglaubt, in Snape eine Unterstützung zu finden, doch er hatte zum Glück geirrt.
Schnellen Schrittes gingen sie nebeneinander auf den Fluren entlang, stiegen unzählige Treppen empor und standen letztendlich an den steinernen Wasserspeiern, die den Weg zum Büro des Rektors bewachten. Snape sagte das Passwort und die Wasserspeier öffneten den Eingang.
Oben wurde ihnen die Tür von einem überraschten Dumbledore geöffnet.
„Professor Snape?“ In Gegenwart des Schülers verzichtete der Direktor auf die persönliche Anrede. „Und Harry? Was kann ich für euch tun?“
Sie wurden eingelassen und blieben alle drei in der Mitte des Raumes stehen. Snape ergriff das Wort. „Potter hat etwas Wichtiges zu verkünden.“ Der Tränkelehrer schaute zu ihm hinüber, Harry blickte daraufhin zu Dumbledore.
„Ich … Ähm …“ Das hatte sich Harry leichter vorgestellt, doch er wollte sich weder vor Snape noch vor dem Direktor lächerlich machen. „Ich habe vorhin Ihr Denkarium benutzt, Professor Dumbledore.“
Der Direktor schien kein bisschen überrascht. „Und?“
„Das kann nicht Ihr ernst sein, dass Snape Sie mit einem Avada zur Strecke bringen soll.“
„Ah!“, machte Dumbledore, der offenbar erst jetzt erfuhr, welche Erinnerung Harry sich angeschaut hatte. „Das ist keine leichte Entscheidung gewesen, Harry, das kannst du dir sicher vorstellen.“ Dumbledore schenkte Snape einen bösen Blick, bevor er wieder Harry anschaute. „Was genau möchtest du von mir?“
„Was ich möchte?“, wiederholte Harry aufgebracht. „Ist das nicht offensichtlich? Ich will, dass Sie Ihren Plan ändern! Und Professor Snape will es auch.“
„Das ist nicht möglich, Harry, tut mir leid.“
Am meistern ärgerte es Harry, dass Dumbledore so ruhig blieb. „Das können Sie doch nicht einfach so entscheiden, Professor. Das geht nicht! Wir beide“, Harry gab Snapes Schulter einen leichten Schlag, als wäre der ein alter Kumpel, „wir wollen das nicht. Wir sind dagegen! Das sind schon zwei gegen einen.“
„Ist das so, Severus?“ Dumbledore war in den vertraulichen Tonfall übergegangen.
„Ich gebe es ungern offen zu“, begann Snape mit fester Stimme, „aber ich bin mit Potter einer Meinung.“
Das überraschte selbst Harry, doch über diese Aussage war er froh. So froh, dass er lächeln musste. Dumbledores Gesichtsausdruck verfinsterte sich jedoch, woraufhin Snapes Miene langsam Ähnlichkeit mit der bekam, die Harry schon in der Erinnerung gesehen hatte. Die Hilflosigkeit stand dem Tränkemeister ins Gesicht geschrieben. Demut und Verzweiflung.
„Es bleibt dabei“, sagte Dumbledore bestimmend.
„Was? Das kann nicht Ihr Ernst sein.“ Harry war erzürnt. „Was nehmen Sie sich überhaupt heraus? Bei jemandem einen Mord in Auftrag zu geben, das ist … das ist …“
„Notwendig“, vervollständigte der Direktor mit eiskalter Miene.
„Von wegen notwendig! Ich glaube es einfach nicht.“ Wütend drehte sich Harry um und trat auf dem Weg zur Tür den Chintz-Sessel, auf dem vor wenigen Wochen Snape gesessen hatte, als Dumbledore mit ihm die Einzelheiten zum Auftragsmord besprochen hatte. Noch an der Tür stehend drehte sich Harry zu den beiden Männern um. „Ich bin mir sicher, dass alle aus dem Orden etwas dagegen haben. Stimmen wir doch einfach demokratisch über Ihren Plan ab, Professor Dumbledore!“
Der Direktor strich sich über seinen weißen Bart. Er schien des Diskutierens müde. Vielleicht, so hoffte Harry, hatte er dem alten Mann so sehr den Kopf gewaschen, dass dieser nun nachgab. Dumbledore beugte sich zu Severus und flüsterte dem etwas ins Ohr. Der Zaubertränkemeister blieb im ersten Moment wie versteinert stehen. Erst als Dumbledore eine gute Nacht wünschte, näherte sich Snape der Tür, somit auch Harry. Stumm gingen sie die Treppe hinunter.
Unten angelangt fragte Harry, während er neben Snape herlief: „Was hat er gesagt? Hat er’s sich anders überlegt?“ Harry wagte einen Blick zur Seite. Aus Snapes Mimik konnte man absolut nichts herauslesen.
„Wir gehen in mein Büro. Ich habe einen Kamin.“
„Dann sagen wir Shacklebolt Bescheid?“
Harry freute sich über den Erfolg. Gleich würde er mit dem Auror sprechen, die Situation erläutern und dafür sorgen, dass Dumbledore vom gesamten Orden die Leviten gelesen bekommen würde. Niemand würde Dumbledores Pläne unterstützen. Harry stellte sich jetzt schon vor, wie Remus ihn für seinen Einsatz loben würde, wie Shacklebolt ihm auf die Schulter klopfen würde.
Hektisch betrat Harry Snapes Büro und blickte sich um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es in diesem Büro gar keinen Kamin gab. Aufgebracht drehte Harry sich um und sah noch rechtzeitig, wie Snape einige wortlose Zauber über die Tür legte. Ihm wurde mulmig zumute. Ohne es zu wollen, begann Harry am ganzen Leib zu zittern.
„Was hat Dumbledore Ihnen ins Ohr geflüstert?“
Snape drehte sich nicht zu Harry um, nachdem er mit den vielen Zaubersprüchen fertig war. Der Tränkemeister ließ den Kopf hängen. Harry hörte ihn einmal tief durchatmen, bevor sich Snape zu ihm wandte.
„Was läuft hier?“, fragte Harry verängstigt.
Snapes Stimme war träge und monoton, als er erklärte: „Professor Dumbledore hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass der Dunkle Lord nichts von dieser Nacht erfährt.“
„Ich werde ihm bestimmt nichts sagen!“, beteuerte Harry. Sein Magen spielte verrückt. Harry bekam es mit der Angst zu tun. „Professor Snape?“, fragte er kleinlaut nach.
„Es tut mir leid“, hörte man die gebrochene Stimme des Zaubertränkemeisters. Aus dem linken Ärmel zog er langsam seinen Stab. Harry hatte Todesangst, als die Stabspitze sich auf ihn richtete.
„Tun Sie das nicht, bitte!“
Als Snape ein leises Wort sprach, schleuderte ein Fluch in Harrys Richtung. Mit einem Hechtsprung rettet sich der Schüler. Der Fluch traf ein Bücherregal. Harry zog seinen Stab. Zeitgleich riefen sie den Entwaffnungszauber.
„Expelliarmus!“
Mit Wucht wurde Harry der Stab aus der Hand gerissen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als in den Nahkampf überzugehen. Snape zielte bereits erneut, doch da hatte Harry schon einen Stuhl in den Händen, den er in Snapes Richtung schleuderte. Mit einem einfachen Zauberspruch schleuderte Snape den Stuhl von sich. Einen Wimpernschlag später hing Harry an seinem rechten Unterarm, um ihn zu entwaffnen. Snape drückte ihn von sich, doch der Schüler ließ nicht los. In seiner Wut war Harry körperlich genauso stark wie Snape. Eine falsche Bewegung entschied darüber, wer gewinnen würde. Snape trat Harry mit Wucht auf den Fuß, stieß dann den jungen Mann von sich, der rücklings stolperte und auf dem harten Boden landete. Snape richtete den Stab auf Harry, doch etwas ließ ihn zögern. Es war das Wimmern, die leisen Worte.
„Tun Sie das nicht, tun Sie das nicht. Bitte nicht“, sagte Harry immerfort. Snapes Herz war nicht so hart wie man es allgemein annahm. Scheu schaute Harry seinen Lehrer an. Snape erkannte die Angst in den Augen des jungen Mannes.
„Es wird nicht wehtun.“ Der Versuch, Harry die Angst zu nehmen, scheiterte kläglich.
„Bitte lassen Sie mich gehen, Professor Snape. Ich werde niemandem etwas sagen. Niemandem, versprochen!“ Vorsichtig stand Harry auf. Er war wackelig auf den Beinen. „Ich bitte Sie, lassen Sie mich gehen“, hauchte Harry, dessen Stimme von unkontrollierten Kontraktionen des Zwerchfelles arg unterbrochen wurde. Mit dem Stab folgte Snape ihm, als Harry langsam zur Tür ging, dabei Snape im Auge behielt, falls er wieder einem Fluch ausweichen musste. Harry ertastete die Türklinke und betätigte sie, doch die Tür blieb verschlossen. Panik machte sich in Harry breit. Alle Vorsicht ließ er außer Acht, um mit beiden Händen an der Türklinge zu rütteln und gegen die Tür zu schlagen. „Lassen Sie mich raus, lassen Sie mich raus!“
„Potter“, sagte Snape viel zu leise. Harry hörte ihn nicht. Er machte zu viel Lärm, um aus dem Büro zu entkommen. „Harry …“
Die Schultern des Schülers bebten. Langsam drehte sich Harry um. Ihm lief die Nase, ebenso die Tränen, aber er strengte sich an, sich nicht seinen Gefühlen hinzugeben. Noch immer war Harry auf der Hut. Als er mit dem Fuß gegen etwas stieß, dass sich wie Holz anhörte, bückte er sich blitzschnell, um seinen Stab aufzuheben. Mit zitternder Hand visierte er Snape an, doch der hatte seine Hand längst sinken lassen.
Angespannt und mit abgehackter Atmung näherte sich Harry dem Tränkelehrer, stellte sich direkt vor ihn hin, um seinen Gryffindor-Mut zu zeigen.
„Sie könnten mich gehen lassen. Niemand wird etwas erfahren“, flüsterte Harry.
Snape schüttelte langsam den Kopf. „Das geht nicht.“ Snape sprach leise. „Der Dunkle Lord darf nie erfahren, was du gesehen hast.“
Harrys Lippen bebten. Er zog die Nase hoch, bevor er vorschlug: „Dann bringen Sie mir Okklumentik bei!“ Hier hob Snape überrascht den Kopf und blickte in die grünen Augen, die unerwartet eine längst erloschene Trauer wieder auflodern ließen. „Ich gebe mir Mühe, versprochen! Ich höre sogar mit Quidditch auf und werde jeden Tag mit Ihnen üben“, schwor Harry.
Snape hatte es nie gemocht, wenn Lily weinte. Im Moment erinnerten ihn Harrys rot unterlaufene Augen an die von Lily, nachdem sie von der Schaukel gesprungen und mit dem Knie auf einer Glasscherbe gelandet war. Den ganzen Weg über bis zu seiner Mutter, die sich um die Verletzung kümmerte, hatte seine kleine Freundin schrecklich geweint.
„Ich werde alle Bücher lesen, die Sie mir geben“, versprach Harry. Die runde Brille beschlug durch die Feuchtigkeit und die Kälte, die in den Kerkern herrschte, so dass er sie abnahm und in eine Tasche steckte; und damit die Augen seiner Mutter nur noch deutlicher zur Schau stellte. In jenen Augen sah Snapes nichts anders als ein Flehen. „Bitte … Severus, bitte!“, wagte Harry den Schritt von der höflichen Distanz zur vertrauten Nähe. „Es tut mir leid, dass ich Ihre Erinnerung gesehen habe.“ Nervös strich sich Harry durch das wirre Haar. „Mein Vater war ein richtiger Idiot“, sagte er und meinte es sogar. Harry zitterte, holte nur stotternd Luft, weil die Angst und die Tränen ihn schwächen wollten. „Ich habe Ihnen nicht getraut, nur deswegen wollte ich Sie ausspionieren“, gestand Harry reumütig. „Ich hätte auf Hermine hören sollen“, er zog die Nase hoch, „sie hat immer gesagt, wenn Sie im Orden sind, dann sind Sie auf unserer Seite.“ Mit dem Ärmel wischte sich Harry über die Nase. „Und wenn alles vorbei ist …“ Harry blickte in die bodenlos schwarzen Augen. „Wenn der Dunkle Lord besiegt ist, dann gehen wir beide einen trinken.“ Snape schnaufte belustigt, weil keine Fantasie der Welt es erlaubte, sich dieses Szenario vorstellen zu können. „Ich bezahle auch!“, fügte Harry an.
Snapes einseitiges Lächeln verblasste so langsam wie Harrys Hoffnung, unversehrt aus dieser Situation entkommen zu können. Unverhofft spürte Snape einen seltsamen Druck auf dem Herzen. Gedankenversunken hob er die linke Hand, um mit den Fingerspitzen die Stelle zu berühren, an der sich sein Herz befand. Vor ihm stand noch immer Harry. Nervös, durcheinander, verängstigt. Snape musste einen Entschluss fassen.
„Ich habe viele Jahre benötigt, um Okklumentik so vollendet zu beherrschen, dass der Dunkle Lord an mir scheitert. Du wirst es nicht rechtzeitig schaffen, Harry.“
„Ich strenge mich an!“ Weil Snape den Kopf schüttelte und Harry sein Schicksal besiegelt glaubte, ging er ein paar Schritte zurück und richtete den Stab auf Snape. „Sie lassen mich gehen, sonst …“
„Sonst was?“
Als Harry die erste Silbe des Entwaffnungszaubers sprach, stand er selbst schon wieder ohne Stab da. Snape war schneller als er, doch Harry wollte sich seinem Schicksal nicht ergeben. Wenn Bitten und Flehen nicht half, dann musste eine andere Taktik her.
„Es macht Ihnen Spaß, richtig?“, warf er Snape vor. „Den Sohn Ihres damaligen Rivalen zu quälen. Das gefällt Ihnen!“
„Sei nicht albern“, zischte Snape zurück.
„Was würde meine Mutter sagen, wenn sie uns jetzt sehen würde?“
Das schmerzte. „Sie würde verstehen, dass es notwendig …“
„Von wegen notwendig!“, brüllte Harry. „Das ist Dumbledores Meinung, nicht meine. Ist es Ihre? Sehen Sie es genauso?“ Weil Snape sich nicht regte, glaubte Harry die Antwort zu kennen. „Nein, es ist nicht Ihre Meinung, aber Sie tun es einfach, weil man es Ihnen aufgetragen hat. Treffen Sie eigentlich irgendwann auch mal eigene Entscheidungen?“
Snapes linkes Auge zuckte nervös. Er hob den Stab. Mit Harrys darauf folgender Reaktion hatte Snape nicht gerechnet. Harry hob die Arme, um seinen Kopf zu schützen, stolperte dabei rückwärts, bis er mit dem Rücken auf die Tür traf. Harry ging in die Knie, geschüttelt von Wut und Angst.
„Das können Sie nicht tun!“, schrie Harry verzweifelt. „Warum hilft mir denn niemand?“
Snape ertrug es nicht. Zielstrebig stürmte er auf Harry zu, ergriff ihn an den Oberarmen und stellte ihn wie eine Puppe wieder auf die Beine.
„Was glaubst du denn, was ich tun werde?“, fragte Snape verärgert. „Ich werde dich wohl kaum umbringen!“ Durch seine gekreuzten Unterarme, die Harry noch immer vor das Gesicht hielt, blinzelte er seinen Tränkemeister an. Snape nahm Harry Arme und drückte sie hinunter. „Ein Obliviate, Harry. Nichts weiter.“
„Nichts weiter?“, fragte Harry wütend nach. „Ich will meine Erinnerungen behalten!“
Snape ging nicht auf Harrys Worte ein, sondern erklärte: „Es wird nicht wehtun. Du wirst einen kurzen Augenblick lang orientierungslos sein.“
Harry erinnerte sich an Mr. Roberts, den Muggel vom Campingplatz, der durch mehrere Obliviate-Zauber schon einen glasigen Blick hatte. „Nein, das kann nicht sein. Ich will das nicht!“ Verzweifelt krallte Harry sich in Snapes schwarzen Umhang. „Bitte nicht! Lassen Sie mich mit Shacklebolt reden. Sie werden nichts zu befürchten haben, Snape. Ganz bestimmt nicht!“
„Harry, ich muss …“
Die Verzweiflung darüber, dass man ihm gleich etwas nehmen würde, das er nie wieder zurückerlangen konnte, schüttelte Harry so heftig, dass er das Gefühl hatte, er würde er ohnmächtig werden. Der Gedanke war unerträglich, eine Erinnerung für immer und ewig zu verlieren. Das konnte man doch nicht einfach mit ihm machen, dachte er. So hilflos und ausgeliefert hatte Harry sich nicht einmal auf dem Friedhof gefühlt, als Voldemort ihn festgehalten hatte. Ihm wurde schwindelig. Wie ein Echo hörte Harry eine Stimme sagen: „Atme!“
Für wenige Minuten war Harry weggetreten, was Snape Sorgen bereitete. In diesem Zustand durfte er keinen Obliviate anwenden, sonst könnte Harry demnächst das Zimmer neben Lockhart beziehen. Er hatte Harry auf einen Stuhl gesetzt. Aus einem Schrank holte er ein Fläschchen, dessen Inhalt unter anderem aus Hirschhornsalz bestand. Die Substanz hielt er Harry unter die Nase. Es dauerte nicht lange, da erlangte der junge Mann das Bewusstsein wieder. Diesmal war Harry ruhig, sein Gesicht war kreidebleich.
Erschreckt stellte Harry fest, dass er gerade die Besinnung verloren hatte. Nur wenig Erleichterung verschaffte ihm der Fakt, dass er noch immer über die Erinnerung verfügte, die in Dumbledores Augen so gefährlich wäre. Harry wusste nicht, wie er sich noch wehren konnte. Er hatte keinen Zauberstab, konnte das Büro nicht verlassen und würde danach nicht einmal den Direktor oder Snape dafür zur Rechenschaft ziehen können, dass man ihm eine Erinnerung gestohlen hatte, weil er sich daran natürlich nicht mehr erinnern würde. Harry resignierte. Wiederstand war zwecklos.
Snape stellte eine leere Phiole auf den Tisch, die Harry mit trüben Augen betrachtete.
„Die Erinnerung, die du in Dumbledores Denkarium gesehen hast …“
Mehr musste Snape nicht sagen. Der Tränkemeister wusste, dass die Erinnerung, die er löschen sollte, sich nun an vorderster Front in Harrys Gedächtnis befinden würde und mit ihr die Erinnerung an das Gespräch mit ihm und dem Direktor. Als er seinen Zauberstab an Harrys Schläfe führte, zuckte der Schüler nur einmal zaghaft zusammen.
Ein silbernes Fädchen hing an Snapes Stab. Die leere Phiole fing die Kopie der Erinnerung auf. Snape verkorkte sie und steckte den gläsernen Behälter in die Innentasche seines Umhangs.
So bleich wie einer der Hausgeister war Harry, als er mit dünnem Stimmchen fragte: „Und was jetzt? Ich kann Sie nicht überreden oder? Sie lassen mich nicht gehen.“ Snape schüttelte zweimal den Kopf, woraufhin Harrys Lippen erneut zu beben begannen. „Es liegt bei Ihnen, Professor Snape, welche Entscheidung Sie treffen.“
„Ich habe mich zu oft in meinem Leben falsch entschieden, Harry.“ In Snapes Stimme schwang die Trauer mit, die er seit sechszehn Jahren für sich behalten hatte. „Ich werde auf Dumbledore hören.“
Harry weinte leise, ergab sich seinem Schicksal. Mit der linken Hand musste Snape seine Augen bedecken, weil er seit langer, langer Zeit seiner steinernen Miene nicht mehr traute. Sie bröckelte. Mit einem tiefen Atemzug stählte sich Snape für die bevorstehende Aufgabe. Er erklärte seine Vorgehensweise.
„Ich werde gleich den Vergessenszauber sprechen.“ Er hörte Harry kräftig schlucken, doch der Schüler wehrte sich nicht mehr. „Die Orientierungslosigkeit wird nicht lange anhalten.“ Harry nickte. Er hatte alles verstanden. „Und wenn alles vorbei ist“, sagte Snape leise, „wenn der Dunkle Lord besiegt ist, dann bekommst du deine Erinnerung zurück.“ Erstaunt blickte Harry auf. Würden seine Lippen nicht so beben, hätte man den Hauch eines Lächelns erkennen können. „Und wir können zusammen einen trinken gehen.“
„In Ordnung“, sagte Harry so leise, dass es beinahe ungehört geblieben wäre.
„Aber ich bezahle, darauf bestehe ich.“ Nach Snapes Worten zeichnete sich ein gequältes Lächeln auf Harrys Lippen ab. „Bereit?“, fragte Snape.
„Nein.“
Ein Seufzer. „Harry …“
„Ja, schon gut, machen Sie endlich.“
Eine kurze Stille, dann erklang ein von Reue durchzogenes Wort, als Snape den Zauber sprach: „Obliviate.“
Harrys Schädel dröhnte. Er fasste sich an die Stirn und stöhnte. Für einen Moment sah er alles verschwommen. Nach und nach zeichnete sich das Bild klarer, bis er schwarze Augen sah.
„Professor Snape?“
„Das haben Sie von Ihren nächtlichen Rundgängen“, belferte Snape. „Sie sind in eine Falltür geraten und haben sich den Kopf gestoßen.“
„Was?“
„Sie lernen es nie, oder? Verschwinden Sie jetzt, Potter, und zwar ohne Umwege direkt in Ihren Schlafsaal! Na, wird’s bald?“
Im ersten Moment torkelte Harry. Ohne dass er es sehen konnte, hielt Snape einen Arm hinter Harrys Rücken bereit, falls er den Schüler auffangen müsste, doch die Nebenwirkungen des Obliviate waren schnell verflogen. Snape begleitete Harry zur Tür und öffnete sie.
„Ach, bevor ich es vergesse: Zehn Punkte Abzug für Ihr unerlaubtes Umherstreunen in den Gängen!“ Mit einem Knall schloss Snape die Tür zu seinem Büro und lehnte sich mit dem Rücken an das alte Holz. Er hörte noch ein wütendes Mistkerl, bevor Harry den Weg zum Gryffindorturm antrat.
Als er sich vollends unbeobachtet fühlte, erlaubte Snape sich seit vielen Jahren einen ungebremsten Ausbruch seiner angestauten Gefühle. Einen Mülleimer trat er so fest, so dass der gegen eines der Gläser stieß, in denen er schleimige Kreaturen aufbewahrte. Mit beiden Händen raufte er sich die Haare und schloss die Augen. Es stimmte, als er Harry gegenüber zugab, er hätte schon zu viele falsche Entscheidungen getroffen. Snape war sich nur nicht sicher, ob die heutige Nacht dazugezählt werden musste. Das erste Mal hatte er in Harry nicht den verhassten Schüler gesehen, sondern den mächtigsten Verbündeten im Kampf gegen den Dunklen Lord. Harry hatte es nicht verdient, dass man ihn so behandelte, doch die Gefahr war zu groß, dass Voldemort in die Gedanken seines Erzfeindes eindringen und von der Vereinbarung erfahren würde.
Von seinem Büro aus ging Snape in sein Schlafzimmer. Hier bewahrte er den Alkohol auf, den die Kolleginnen und Kollegen ihm regelmäßig zweimal im Jahr schenkten. Bei einem Gläschen Feuerwhisky dachte er darüber nach, was geschehen wäre, hätte er Harrys Vorschlag angenommen und Shacklebolt kontaktiert. Hätte der etwas ändern können? Wäre Snape von seinem Versprechen erlöst worden?
Eine der schlimmsten Empfindungen, die es gab, war die Schuld. Mit ihr musste Severus schon lange leben. Heute Abend plagten ihn seine Gewissensbisse besonders stark und er empfand darüber hinaus tiefes Bedauern, seiner eigenen Entschlussfähigkeit nicht trauen zu können. Tatsächlich beschäftigte ihn die Frage, was Lily sagen würde, wäre sie Zeugin seiner Unterhaltung mit Harry gewesen. In Gedanken tadelte Lily ihn für sein Verhalten, verteilte eine Schelte nach der anderen und Severus ertrug es, wie er alles ertragen musste, um seine Schuld abbezahlen zu können.
„Es tut mir leid“, sagte er in leeren Raum hinein. Er redete sich ein, dass seine Augen durch das scharfe Aroma des Whiskys unentwegt tränten. So schlecht wie heute hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Snape spürte die Phiole in seiner Innentasche und nahm sie in die Hand. Nur kurz überlegte er, dann war sein Entschluss gefasst. Die Erinnerung von Harry fügte er in sein eigenes Gedächtnis ein, weil sie dort am sichersten aufbewahrt war. Sich selbst versprach er, Harry diese Erinnerung zukommen zu lassen. Vielleicht zusammen mit einigen anderen, die Harry gegenüber sein Handeln erklären würden. Das war er Lilys Sohn schuldig.
Womöglich in ein paar Jahren, wer wusste das schon so genau, würde er mit Harry Potter im Tropfenden Kessel sitzen und mit ihm auf den Sieg über Voldemort anstoßen.
Natürlich würde Snape bezahlen. Auf die ein oder andere Weise.
Ende