Kapitel 1
Hermine, ihre Schreibfeder in der rechten Hand, saß unschlüssig an ihrem Schreibtisch und starrte auf ein leeres Blatt Pergament, das vor ihr lag. Immer wieder sah sie auf die Uhr. Sie saß schon eine Weile dort; saß einfach nur da und sah auf das Stück Pergament herab. In ihr tobte ein kleiner Kampf. Sie kannte das Gefühl noch nicht so unschlüssig zu sein. Sie wusste sonst immer, was zu tun war. Wie konnte sie die Antwort auf einen so banalen Brief einfach aus der Bahn werfen?
Sie ging ans Fenster und öffnete es. Tief sog sie die kühle Sommernachtsluft in ihre Lungen.
„Komm schon, Hermine! Was soll das?“, murmelte sie und verzog qualvoll das Gesicht, wütend über ihre eigene Unschlüssigkeit.
Wieder sah sie auf die Uhr. Halb zwei. Sie hatte nun schon fast zwei ein halb Stunden vor diesem trüben Fetzen Pergament gesessen und rein gar nichts war ihrer Feder entwichen. Keine einzige Linie. Kein einziger Schnörkel ihrer krakeligen, aber doch reinen Schrift. Sonst schrieb sie in einer solchen Zeit an die fünfzehn Rollen Pergament voll. Sie seufzte.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
„Hermine, Schatz.“ Es war ihre Mutter, die mit verschlafenen Augen durch die halb geöffnete Zimmertür blinzelte. Hermine drehte sich zu ihr um.
„Ich weiß ja, ihr jungen Leute braucht nicht so viel Schlaf, aber ich hab morgen früh eine komplizierte Zahn- Operation zu machen. Meinst du, du könntest den Vogel irgendwie ruhig stellen?“
Hermine blickte erschrocken an die Zimmerdecke, wo seit der Ankunft von Rons Brief dessen Eule Pigwidgeon herumschwirrte und ununterbrochen zwitscherte und krakeelte. Hermine war so in ihren Gedanken versunken gewesen, dass sie Pig nach einiger Zeit gar nicht mehr wahrgenommen hatte.
„Oh, natürlich, Mama. Tut mir leid!“
Aber ihre Mutter war schon wieder weg. Hermine hüpfte hoch an die Decke und angelte Pig mit einer geschickten Handbewegung aus der Luft. Sie überlegte, mit was sie ihn wohl ruhig stellen könnte. Eulenkekse besaß sie keine. Sie hatte ja auch keine Eule und Krummbein fraß so etwas natürlich nicht. Also ging sie hinüber zu einem ihrer Schränke, wo sie glaube vom letzten Sommer noch Kekse zu haben und öffnete ihn. Sie griff nach der seit einem Jahr angebrochenen Packung, roch daran und holte dann einen Keks heraus. Die Kekse schienen noch völlig in Ordnung zu sein, allerdings waren sie sehr trocken und bröselig. Hermine zuckte mit den Schultern. Für Pig sollte es reichen. Dieser zappelte nämlich immer noch laut fiepend in ihrer Hand herum. Sie hoffte nur, dass er mit dem Keks endlich ruhig sein würde. Sie steckte ihm einen kleinen Krümel in den Schnabel und sofort verstummte er und knabberte genüsslich an seinem Krümel herum. Hermine lächelte milde. Er war Ron schon etwas ähnlich. Jedenfalls ähnlich verfressen. Sie schaute Pig noch eine Weile zu, wie er mit seinem Mitternachtssnack kämpfte, setzte sich dann wieder an ihren Schreibtisch und griff zum hundertsten Mal nach dem kleinen, gerollten Stück Pergament, dass Pig ihr gebracht hatte. Sie konnte den Text schon auswendig. Die Zeilen waren die letzten 3 Stunden immer wieder in ihrem Kopf herumgegeistert. Sie las ihn noch einmal:
Liebe Hermine,
ich hoffe du hattest schöne Ferien in Südfrankreich. Wir waren leider nicht im Urlaub. Wir haben nur einmal einen kleinen Ausflug zu Harry gemacht um ihn abzuholen, weil die Kamine von Muggeln ja für das Flohnetzwerk gesperrt sind und wir kein Auto mehr haben. Lupin und Tonks waren auch dabei.
Harry ist jetzt jedenfalls bei uns und ich soll dich von Mum fragen, ob du nicht auch Lust hast zu kommen. Sie würde dich sehr gerne wieder sehen und braucht außerdem ein bisschen „weibliche Hilfe“ (ihre Worte) für die Hochzeitsvorbereitungen von Bill und Fleur.
Hoffentlich bis bald,
Ron
P.S.: Liebe Grüße von Harry und Ginny!
P.P.S.: Falls du kommst, schreib einfach kurz wann, damit wir hier alles vorbereiten können.
Hermine warf den Brief auf ihr Bett und seufzte abermals. Sie konnte diesem Brief so gar nichts abgewinnen. Es war eigentlich schon ein Wunder, dass Ron ihr überhaupt mal einen Brief schrieb. Aber hatte sie sich so getäuscht in ihm? Wollte er nicht mehr als Freundschaft? So war es ihr jedenfalls im letzten Jahr vorgekommen... Aber dieser Brief war einfach so neutral. So gar nichts sagend. Aber vielleicht war das einfach Rons Art. Ja, es war Rons Art. So war er nun einmal. Die Gefühlswelt eines Teelöffels. Ein Grinsen streifte ihr Gesicht, als sie an diese Worte, die sie ihm einmal gesagt hatte, und Rons empörte Reaktion darauf dachte.
Aber warum sollte sie auch nicht in den Fuchsbau gehen? Was war schon dabei? Sie hatte das doch fast jeden Sommer getan. Außerdem war sie auch eine gute Freundin von Ginny und natürlich von Harry und sie vermisste die zwei. Allerdings nicht so sehr wie sie Ron vermisste.
„Ohman!“, stöhnte sie und schlug sich mit ihrer linken Hand gegen den Kopf. „Jetzt höre ich mich schon an, wie eine dieser pubertierenden Mädchen, wenn sie verliebt sind und die Welt gleich unter zu gehen scheint deswegen. Ich werde in den Fuchsbau gehen, wie immer, und Mrs. Weasley helfen und Spaß haben mit Harry und Ginny und den andern...“
Wütend verzog sie das Gesicht, griff entschlossen nach ihrer Feder und setzte gerade an zum Schreiben, als sie wieder einmal wie so oft in letzter Zeit Opfer ihrer eigenen Gedanken wurde... Und was war mit Ron? Würde sie auch Spaß mit ihm haben? Hermine schüttelte den Kopf, wie um den Gedanken ab zu schütteln und schrieb:
Lieber Ron,
mein Urlaub war sehr schön.
Sie setzte ab. Normalerweise hätte sie ihm jetzt von den vielen alten tollen Sachen und Büchern erzählt, die sie wieder gesehen hatte, doch sie zögerte. Sie wusste, dass er sich deswegen über sie lustig machen würde. Sie biss sich auf die Lippen und schrieb weiter.
Ich hoffe, deine Ferien waren trotzdem gut bis jetzt.
Ich würde sehr gerne zu euch in den Fuchsbau kommen. Ich weiß allerdings noch nicht genau wann, weil ich hier nur schwer wegkomme und meine Eltern zu beschäftigt sind um mich zu euch zu fahren. Weist du vielleicht, wie man auf Muggelwegen zu euch kommt? Oder frag Harry mal.
Ich warte hier (zu Hause) auf deine Antwort.
Alles Liebe,
Hermine
Sie überflog den Brief noch einmal und nickte zufrieden. So schwer war es doch nicht gewesen. Sie ging zum Fenster hinüber, wo Pig immer noch an seinem Keks knabberte und band ihm das nun klein zusammen gefaltete Pergamentstück an den rechten Fuß. Dann nahm sie ihm den Keks weg, da sie fürchtete, er würde sonst nicht los fliegen. Pig sah sie für einen kurzen Moment entrüstet an, hüpfte dann aus dem immer noch weit geöffneten Fenster und sank einige Meter nach unten, bevor er sich fing und irgendwann in der Ferne verschwandt.