Ginny zieht an ihren Haaren, reißt ein paar Strähnen raus und ordnet sie auf dem Rücken ihres Textbuches an. Bei jedem Zug zieht sie zwei, drei Haare raus, manchmal vier oder fünf, dieses lohnende Ergebnis gibt Ginny ein seltsam befriedigendes Gefühl. Es wird gesagt, dass man dutzende von Haaren am Tag verliert und Ginny fühlt sich irgendwie besser, wenn sie in der Lage ist, alle ihre zu zählen. Ein berechenbarer Verlust. Fünfundvierzig Minuten, zweiundfünfzig Haare. Sie zieht sie alle während des Unterrichts raus, behält die Übersicht, legt sie nebeneinander. Manchmal bleiben die klebrigen Wurzeln an der Oberfläche ihres Buches hängen, so dass sie sie mit ihrem Ärmel abstreifen muss. Sie macht das jeden Tag.
Es ist ein neues, glänzendes Textbuch, das erste neue Textbuch das sie je besessen hat, mit schwarz - schimmernder Oberfläche und grauen Buchstaben. Arithmantik II. Harry kaufte es am Anfang des Semesters für sie, als er bemerkte, dass das Buch mit dem sie zur Schule kam an den Enden schon auseinander fiel und eine Zweitauflage war, nicht die Sechste, die es hätte sein müssen. Sehr gedankenvoll. Er schlich sich davon und kaufte es, während sie in Hogsmeade waren und sie sich Haarklammern im Robengeschäft anschaute. Sie schaute auf, sah wie er verschwand, nahm sofort an, dass er zu einem weiterem geheimen Rendez-vous auf war und kochte innerlich, während sie ein Kleid an sich hoch hielt. Die ganze Zeit über war ein falsches Lächeln auf ihrem Gesicht, welches vom Spiegel im Umkleideraum auf sie zurück geworfen wurde. Es war ein Gesichtsausdruck den sie gelernt hatte, um ihn, wann immer solche Sachen passierten, auf ihr Gesicht zu setzen. Reg' dich nicht auf. Sei praktisch.
Dieses Mal lag sie falsch und fühlte sich schuldig. Ihr eigenes Textbuch, was für ein romantisches Geschenk. Es war wahrscheinlich auch das Angemessenste; erster Jahrestag, Papier. Nützlich, blank, praktisch. So waren Harrys Geschenke immer. Zu Weihnachten schenkte er ihr einen Pullover, einen Grauen ohne riesiges G vorne drauf. Ein neues Paar Schuhe zu ihrem Geburtstag; Riemchenschuhe aus Leder die sie zum Unterricht tragen konnte. Notizblöcke und ein neues Tagebuch zu Ostern, was sie als seltsames Geschenk empfand, da sie es seit ihrem ersten Jahr ablehnte ein Tagebuch zu führen. Einen Satz Federn, als sie die Höchstnote in ihrer Transfigurationsklasse erreichte. Eine Eule (Augustus, Spitzname Gus) zum Geburtstag, der sofort von der ganzen Familie adoptiert wurde und mehr Zeit im Fuchsbau verbringt als sie. Harry ist mehr ihr Kumpel als ihr Freund, und es kommt ihr so vor, als ob er vorher mit ihren Eltern abgesprochen hätte, was er ihr schenken soll, um ihr Familieneinkommen zu erleichtern. Liebe Mrs. Weasley, schreibt Harry bestimmt, Wie kann ich ihrer Familie heute helfen? Was soll ich Ginny kaufen, damit sie es nicht tun müssen? Ginny hat sein Verließ gesehen. Sie weiß, er kann es sich leisten.
Oh sicher, Harry ist sehr gütig. Sehr gütig zu allen. Er und Ron sind unzertrennlich und die Zwillinge haben ihren eigenen Scherzartikelladen ihm zu verdanken. Ihre Eltern beten Harry an und hätten ihn auch wahrscheinlich schon adoptiert, wenn sie nicht die Hoffnung hätten, dass er Ginny eines Tages einen Heiratsantrag machen und ihnen damit diese Last von den Schultern nehmen würden. Oh, das ist aber in einer netten Art und Weise gemeint. In einer praktischen Art und Weise. Ginny ist gebunden an praktische Handlungen und Bücher aus zweiter Hand und Röcke, die ihre Mutter aus Fetzen von Percy's alten Hosen näht; Ihre ganze Existenz ist praktisch, außer dass sie das einzige Mädchen ist und alles kompliziert macht.
Also gaben sie ihr etwas zutun. Sie gaben ihr ein Ziel in der Hoffnung, dass sie ein weiteres, nützliches, geliebtes, großzügiges Mitglied in die Familie mit einbringen kann. Sie zwingen sie nicht dazu, so ist das nicht. Es macht nur Sinn.
Es funktioniert für beide, wirklich. Harry bekommt eine Familie und Ginny bekommt einen Freund der sie verehrt. Er küsst sie mit geschlossenem Mund und hält ihre Hand; sie sitzen bei beim Essen zusammen und er nimmt sie in den Ferien mit ins Muggel Kino. Es wurden schon Bücher über Romanzen wie diese geschrieben, und sie enden alle immer schön und romantisch Aber Ginny wusste schon immer, dass es ein Schwindel ist. Sie hat es immer, immer gewusst.
Manchmal stellt sie sich vor kritisch zu sein und ihm einfach zu sagen, Sieh mal, Harry, ich weiß über Draco bescheid, okay? Es ist in Ordnung. Reib' es mir nicht unter die Nase und es ist fein. Aber irgendwie ist es das nicht, und sie will es sowieso gar nicht wirklich einsehen. Wenn sie gesteht, dass sie es weiß, verliert sie die einzige Karte die sie hat. Sie will, dass die Dinge so weiterlaufen wie bisher, sie mag dieses Arrangement. Sie will dass alles perfekt ist. Und das ist es auch. Wirklich. Er ist ein Gentleman, er ist rücksichtsvoll, er ist lieb. Er kauft ihr alles was sie braucht. Er schenkt ihr Aufmerksamkeit, lacht über ihre Witze und verteidigt sie, wenn irgendwer sie beleidigen oder ihre Gefühle verletzen sollte, selbst wenn es Draco Malfoy ist.
Harry denkt er sei so schlau. Sich aus dem Gryffindorturm raus zu schleichen, sich absichtlich Schularrest einhandeln, in der Nacht im Verbotenen Wald mit Draco umherstreifen. Er tut so, als ob es eine schreckliche Angelegenheit sei, Zeit mit ihm allein verbringen zu müssen und flucht vorher und nachher drüber. Ginny weiß was sie tun, sie hat es zum ersten Mal gesehen als sie ins vierte Jahr kam und von da an ging es nur bergab. Na ja, bergab oder auf, es kommt drauf an, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet.
Niemand kann dich so trösten wie er. Ist es nicht so, Harry. Warum brauchst du überhaupt soviel Trost? Wenn er wütend ist, wenn er verwirrt ist, wenn er verängstigt ist geht er schnurstracks zu Draco. Ginny konnte es zunächst nicht fassen; dieser selbstgefällige Mistkerl - tröstend? Unmöglich. Aber es ist überhaupt nicht unmöglich. Es wäre schwer diese Art von Zärtlichkeit vorzutäuschen, die Art wie Draco Harry an sich zieht, die Art wie er Harrys Handgelenk mit seinem Daumen streichelt, die Art wie sein Gesicht nichts verrät, ganz gleich was Harry auch zu ihm sagen mag wenn er so ist, auch wenn es eine lange Reihe von Beleidigungen an Draco selbst gerichtet ist. Draco hält ihn fest, wenn er ganz und gar vom Schmerz durchzogen ist und wie ein Kind ohne seine Mutter weint. Harry hat noch nie vor Ginny geweint.
Sie hat keinen Zweifel daran, dass Draco Harry liebt, oder dass Harry Draco liebt. Sie schmiegen sich an einander an wie kleine Welpen, streicheln sich übers Haar, schließen ihre Augen, öffnen ihre Münder. Sie küssen sich so, als ob die Welt untergehen würde. Und für sie, tut sie das auch. Jedes Mal.
Sie würde Harry nie als Betrüger beschuldigen, und sie denkt, dass es ihn zerfrisst, dass er einer ist. Er ist nie schroff zu ihr, er vergibt ihr ihre heulendenWutausbrüche, ihre Depressionsanfälle, ihre Tränen und ihr Verlangen danach, immer und immer wieder gesagt zu bekommen wie schön sie ist, wie charmant sie ist, wie wundervoll. Und Harry gibt jedem ihrer Wünsche nach. Er hat einst sogar Ron zur Schnecke gemacht, für einen Kommentar von dem jeder wusste, dass er nicht einmal an Ginny gerichtet war, einfach weil sie verletzt aussah. Einfach weil er wusste, dass sie das von ihm wollte.
Würde er das Gleiche für Draco tun? Niemals. Draco kam nie mit etwas davon. Eine geflüsterte Drohung, eine schnippische Bemerkung, bei einem Test betrügen, Harry würde ihn immer dafür zur Rede stellen. Sie waren brutal zueinander auf dem Quidditsch Platz. Draco versuchte sogar einige Male Harry vom Besen zu stoßen. Da gab es keine Gnade, nicht mal versteckte. Sie entblößen sich voreinander, sogar in ihrer Eifersucht, in ihrer Verbitterung und ihrer Wut.
Ginny fragt sich, ob Pansy auch davon weiß, ob sie eine Erklärung hat, für all die verlorenen Nächte, eine gegen sie verschlossene Schlafzimmertür und eine Zauberspruch-sichere Stille dahinter. Wie könnte sie es nicht wissen? Wie könnte sie nicht eines Abends auf sie gestoßen sein, einander umklammernd und keuchend, Stöhne unterdrückt und Hosen geöffnet?
Als Draco beschuldigt wurde ein Totesser zu sein, als er in das Büro von Dumbledore hatte gehen und sich selbst hatte stellen müssen, war es Harry zu dem er danach ging. Er ging zu ihm mit einer solch stillen Art der Verzweiflung, die niemand je von einem Malfoy erwartet hätte. Er kam mitten am Tag zum Gryffindorturm, als es dort menschenleer war, wusste das Passwort und verschwand direkt ins Schlafzimmer der Jungs.
Ginny, versteckt hinter einer Ritterrüstung, sah wie er es tat, und folgte ihm. Sie konnte hören wie er schluchzte nachdem er in Harrys Arme fiel, hörte wie Harry zu ihm flüsterte. Es war die Art von Flüstern das man für jemanden aufsparte, der einem so nahe ist, dass er dein Herz schlagen hören kann. Sie trösten sich gegenseitig, als ob sie in der großen, weiten Welt nur einander hätten. Solch eine süße Lüge, wenn du dabei bist. So schmerzhaft, wenn nicht. Ginny plagte sich nicht mit der Frage, wie Harry es geschafft hatte an diesem Tag aus dem Unterricht zu kommen. Sie mochte nicht mit ansehen wie er sie anlog, noch weniger als er es mochte es zutun.
Wirklich, wie konnten es die andern nicht wissen? Pansy schien es nichts auszumachen, wenn sie es wusste. Sie zeigte zumindest keine äußerlichen Anzeichen davon, dass es ihr etwas ausmachte, genau wie Ginny. Sie saßen sich während den Spielen gegenüber und feuerten mit an, jubelten; Ginny fühlte sich dadurch wie ein Pappmännchen aus den 50ern. Stand by your man, singen sie in irgendeinem alten Muggel Lied.
Jeder hat seine Gründe. Es fällt Ginny nicht schwer sich vorzustellen, was Pansys Gründe sein müssen. Das Geld, der Name, ein Leben in Luxus. Irgendwie, denkt Ginny, haben sie und Pansy mehr miteinander gemeinsam, als es eine von ihnen zugeben will.
Sie schiebt die Haare von ihrem Textbuch und sieht wie sie zu Boden gleiten. Harry hat weiteren Schularrest heute, weil er sich im Gang duelliert hat, deshalb wird sie ihre Hausaufgaben diese Nacht alleine machen. Achtundfünfzig Minuten, Vierundsechzig Haare. Sie zieht an ihren Haaren, bis keine mehr abfallen, bis sie keinen Überschuss mehr hat. Sie wirft die überflüssigen Teile ihres Körpers ab, immer kleiner werdend, immer stromlinienförmiger. Bald wird nichts mehr von ihr da sein, das nicht unbedingt benötigt wird, das nicht komplett praktisch ist. Sie stellt sich vor, dass sie eines Tages all ihre Haare in rötlichen Ballen rausziehen wird, ihr Schädel pink und glatt und nur ein wenig blutend. Harry würde ihr vergeben, Harry würde sie trotzdem lieben. Er würde ihr sagen, dass es ihr steht, dass er dachte, dass sie so wunderschön wäre.
Wahre Liebe ist die Blindeste von allen.