Es wurde kälter, wenn es auch nicht richtig schneite, was Rafaela wunderte: So heiß es in der Steppe Kastiliens im Sommer werden konnte, im Winter lag fast immer Schnee, während hier in Schottland der wenige Schnee sofort wieder wegtaute. Überall hingen Mistelzweige und Rafaela, die deren Bedeutung nicht kannte, wurde mehrmals von wildfremden Jungen geküsst. Insgeheim hoffte sie, dass einmal Sirius unter diesen Jungen sein möge, doch der ignorierte sie und ging stattdessen mit einem Mädchen aus Ravenclaw.
Warum eigentlich konnte sie Sirius noch immer nicht vergessen? Sie hatte, trotz ihrer zahlreichen Alleingänge, Regin, der immer freundlich zu ihr war und außerdem ein Junge aus gutem Haus und im Unterschied zu Sirius kein Schwarzmagierkind.
Kurz vor Weihnachten gab es noch ein Wochenende in Hogsmeade und sie genoss es, angeschmiegt an Regin, im Madam Puddifoot’s. Ihr entging dennoch nicht, dass Severus allein durch die Gassen schlich. Er schien etwas zu suchen, doch änderte er mehrmals die Richtung. Nahe genug an das Madam Puddifoot’s kam er jedoch nie, dass Rafaela unauffällig seine Gedanken hätte lesen können.
Nicht nur um Severus heimlich nachzuschleichen, schlug sie vor, noch einkaufen zu gehen. Sie wollte Geschenke für Lily, Donna und Katie kaufen. Vor der Tür von Zonkos Laden zog Regin sie an sich: „Rafa, ich muss dich jetzt leider für einen Moment wegschicken“, sagte er und küsste sie. „Du darfst nämlich nicht sehen, was du zu Weihnachten bekommst.“
„Akzeptiert – und umgekehrt gilt dasselbe.“
Sie ging in den Laden hinein, wo sie aber nichts Geeignetes fand. Nachdem sie wieder hinausgegangen war, machte sie sich in einer Seitengasse unsichtbar und versuchte, Severus zu finden, was ihr jedoch misslang.
In den letzten Minuten, bevor sie zum Sammelpunkt zurückgehen musste, fand Rafaela immerhin im Buchladen ein neu erschienenes Buch über die Wimburner Wespen, Regins Lieblings-Quidditchmannschaft. Sie versteckte es gerade noch rechtzeitig unter ihrem Umhang, als sie Regin kommen sah.
In der Adventszeit hatten die Viertklässler viel zu lernen und daher wenig Zeit, an andere Dinge zu denken. Auch Uriella verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek, doch wenn sie dort war, saß Severus nicht neben ihr. Rafaelas Träume kehrten bis zum Heiligen Abend nicht wieder.
Es kam die Stunde des Abschieds. Regin schenkte Rafaela eine Kette mit einem hell glitzernden Stein. „Das ist nicht nur ein Stein“, erklärte er. „Du kannst jederzeit mit mir Kontakt aufnehmen, wenn du willst. Leider erlauben meine Eltern mir nicht, hier bei dir zu bleiben, aber so können wir uns wenigstens unterhalten.“
Sie freute sich sehr über das Geschenk und hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, ihm ‚nur’ ein Buch schenken zu können.
Donna und Katie wollten ihre Weihnachtsgeschenke nach den Ferien mitbringen, was Rafaela, die es von Spanien her gewohnt war, die Geschenke erst an Dreikönig zu bekommen, nicht weiter störte.
Sie sah Regin und ihren Freundinnen lange nach, ehe sie ins Schloss zurück ging. Seit sie in Hogwarts war, hatte sie sich nicht mehr so einsam gefühlt. Sicher, schon letztes Jahr war Weihnachten getrübt gewesen von der Angst, die ihre Eltern hatten, von der sie ihr und Uriella aber nichts erzählen wollten. Dennoch war die Sorge bei Turrones und warmer Sangría verloren gegangen. Sie musste weinen, als sie zurück in ihren Schlafraum ging, in dem sie die Ferien über alleine sein würde. Sie hoffte, dass wenigstens die Großeltern nun, da sie nicht mehr ständig von Schülern beobachtet wurden, mehr Zeit für sie hätten als gewöhnlich.
Gerade am Morgen des Heiligen Abends aber erschütterte eine schreckliche Nachricht die wenigen in Hogwarts verbliebenen Schüler und Lehrer: Gideon Prewett, der ältere Sohn der Lehrerin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste, war von Todessern ermordet worden. Professor Prewett saß mit rot geweinten Augen am prächtig hergerichteten Frühstückstisch und brachte keinen Bissen herunter. Direktor Dumbledore bemühte sich, sie zu trösten.
Als sie sich unbeobachtet fühlte, fragte Rafaela ihre Großmutter, warum gerade Gideon hatte sterben müssen.
„Er hat im Orden der Phönix mitgekämpft. Und er war in ein Muggelmädchen verliebt. Das reicht aus Sicht von Du-weißt-schon-Wem“, antwortete die Großmutter bitter.
„Seid nicht du und Opa ebenfalls im Orden?“, fragte Rafaela.
„Das sind wir. Deine Mutter wollte dem Orden auch beitreten, doch ich konnte es ihr ausreden – zumindest, solange ihr klein wart. Später hat sie, gemeinsam mit eurem Vater, in Spanien für den Orden geworben – sie hat auch vermittelt, dass das spanische Ministerium etwas gegen Todesseraktivitäten unternommen hat und vermutlich verhindert, dass Du-weißt-schon-Wessen Anhänger in Spanien jemals richtig Fuß fassen konnten – und du weißt ja, was passiert ist.“
„Sie selbst – ihr Bild – sagt, Voldemort war eher hinter Papa her.“
„Das auch. Immerhin war euer Vater der letzte Überlebende seiner Familie. Was Diana, deine Mutter, aber nie wahrgenommen hat oder nie wahrnehmen wollte: Es gibt gewisse Grenzen der Magie. Wenige Zauberer sind gut genug, sie zu überschreiten – und viele von denen, die gut genug wären, sind weise genug, es nicht zu tun. Unter denen, die es dennoch getan haben, ist jener, dessen Namen wir besser nicht sagen – allerdings gehörte auch Diana, deine Mutter, dazu.“
„Inwiefern?“
„Darüber möchte ich sehr ungern reden.“
Rafaela widerstand der Versuchung, ins Gedächtnis der Großmutter einzudringen, nicht, doch die verschloss ihre Gedanken sorgfältig.
„Lass das!“, befahl sie scharf. „Eure Mutter jedenfalls hatte Kräfte, die auch für IHN gefährlich hätten werden können. Du kennst einige davon – und scheinst die eine oder andere sogar zu beherrschen.“
„Gedanken lesen? Können das so wenige?“
„Einige Zauberer können es. Aber keine Vierzehnjährigen – außer euch beiden. Und wenn du scharf überlegst, kommst du noch auf andere Fähigkeiten, die eher noch seltener sind. Von der stärksten Kraft deiner Mutter ahnst du aber vielleicht noch gar nichts.“
Nachdem die Großmutter erneut nicht bereit war, darüber zu sprechen, beschloss Rafaela, das Bild der Mutter selbst zu befragen.
„Noch eines, Rafa!“, mahnte die Großmutter. „Ich beherrsche zwar selbst wenig Legilementik, aber ich kann mir vorstellen, dass du selbst gerne in den Orden eintreten würdest. Das kommt nicht in Frage, bevor du siebzehn bist und Hogwarts verlassen hast.“
„Aber dann werde ich mitmachen“, antwortete Rafaela entschlossen und dachte ‚soweit es geht, auch schon früher.’
Die Stimmung war auch am Abend gedrückt, obwohl kaum jemand Professor Prewetts Sohn kannte. Direktor Dumbledore versuchte, die Anwesenden zu beruhigen, dass es bis jetzt noch keinen Angriff auf Hogwarts gegeben hatte. „Ich denke, und bisher habe ich mich nicht getäuscht“, sagte er, „dass Voldemort sich nicht hierher traut.“ Einige erschraken, als sie den Namen hörten. „Wenn ihr irgendwo sicher vor ihm seid“, fuhr er fort, „dann hier.“
Rafaela erhielt von ihrer Großmutter ein Feindglas und von ihrem Großvater einen neuen Rennbesen, doch obwohl sie sich über diese Geschenke freute, konnte das ihre Stimmung nicht bessern. Ihre Schwester Uriella behandelte sie wie Luft und verschwand immer wieder aus Hogwarts. Auch Severus Snape, der ebenfalls in Hogwarts geblieben war, wollte mit beiden Schwestern nichts mehr zu tun haben. Fast alle Gryffindors waren zu Hause bei ihren Eltern. Rafaela erhielt zwar Karten von Lily, Donna, Katie und – was sie wunderte – auch von James und Sirius; sie schrieb auch allen Karten, doch Karten und Geschenke ersetzten keine anwesenden Freunde.
In den Weihnachtstagen erschienen Gäste in Hogwarts, die wenig Kontakt zu den Schülern hielten, aber dennoch oder gerade deshalb deren Neugier erweckten. Unter ihnen war eine junge Frau, die Professor Prewett auffallend ähnlich sah, wenn sie auch etwas molliger geraten schien. Mit ihr zusammen kam ein großer, schlanker, rothaariger Mann und zwei kleine Jungen. Rafaela hörte, dass Professor Prewett die Frau mit „Molly“ und den Mann mit „Arthur“ ansprach und vermutete, dass es sich um das Ehepaar handelte, das dank der Informationen, die sie in Gestalt ihrer Schwester von Severus bekommen hatte, vor den Todessern gerettet worden war.
Auch ein braunhaariger junger Mann war oft bei dem Ehepaar. Er musste kürzlich schwer verletzt worden sein, denn sein Gesicht war vernarbt und er konnte nur mit Mühe gehen. Dennoch gefiel er Rafaela. Er war denn auch der erste, den sie alleine traf – sie hatte dem Schicksal allerdings nachgeholfen und war ihm unsichtbar nachgeschlichen, um sich ‚zufällig’ gerade sichtbar zu machen, als er sich einmal wieder anlehnen musste.
Sie grüßte ihn freundlich, stellte sich vor und schaute kurz in seine Gedanken: Er wusste nichts von ihr und sie schien ihm sogar zu gefallen.
„Ich bin Fabian Prewett“, stellte er sich vor. „Sorry, wenn ich neugierig bin: Halcón klingt nicht gerade wie ein englischer Name.“
„Ich bin in Spanien aufgewachsen. Eigentlich hießen meine Eltern Hawkins.“
„Hießen?“, fragte Mr. Prewett. „Heißt das, sie sind...“
„...von Voldemort ermordet worden“, antwortete Rafaela. Sie wollte ihm schon mehr erzählen, biss sich aber auf die Zunge.
Er schien beinahe zu weinen, zwang sich aber, gefasst zu reden. „Meinen Bruder haben sie auch umgebracht – nicht Du-weißt-schon-Wer selbst, aber seine Männer. Sie haben uns zu fünft angegriffen. Ich habe überlebt, aber nur sehr knapp.“
„War Ihr Bruder Gideon Prewett?“
„Ja. Und eure Lehrerin für Verteidigung gegen die Dunklen Künste ist meine Mutter, Molly Weasley, die heute Mittag bei mir am Tisch saß, meine Schwester, Arthur ihr Mann und mein Schwager und die beiden kleinen Buben sind meine Neffen, Mollys und Arthurs Söhne Bill und Charlie.“
„Beileid wegen Ihrem Bruder – äääh – Trifft sich hier der Orden des Phönix?“
Er erschrak. „Wie kommst du darauf? Was weißt du darüber?“
„Meine Eltern waren... – haben manchmal darüber gesprochen. Ich weiß, dass der Orden Voldemort und seine Todesser bekämpfen will. Meine Großmutter hat mir verboten, mitzumachen – aber sobald ich siebzehn bin, trete ich bei, wenn nicht vorher jemand Voldemort besiegt hat.“
„Du bist ganz schön mutig, das zu sagen – und Du-weißt-schon-Wen beim Namen zu nennen.“
„Mein – meine Eltern haben das auch getan.“
„Und sind tot. Es heißt, es bringt Unglück, den Namen zu sagen.“
„Das hat damit nichts zu tun“, antwortete Rafaela entschieden. „Meine Eltern sind verraten worden.“
„Woher weißt du das?“
„Ihr Haus war versteckt und Voldemort hat es trotzdem gefunden. Mitten in der Nacht. Sie hatten keine Chance, sich zu wehren.“
„Fast niemand hat eine Chance gegen ihn.“
„Wer weiß? Es heißt, wenn die Wut groß genug ist, steigt auch die Zauberkraft. Wenn ich ihm begegnen würde, würde ich den Avada-Kedavra auf jeden Fall versuchen, und ich glaube, ich hätte gute Chancen – gegen niemand sonst, aber gegen ihn.“
Er griff ihr an die Schultern. „Dein Mut ehrt dich, Mädchen, aber mit Mut allein kannst du ihn nicht besiegen – und das sage ich als Gryffindor. Vielleicht deshalb nehmen wir im Orden keine Minderjährigen. Es wäre zu gefährlich für euch.“
„Was will der Orden denn statt dessen tun, wenn er Voldemort nicht angreifen will?“
„Die Todesser angreifen und ans Ministerium übergeben. Wenn Du-weißt-schon-Wer keine Anhänger mehr hat, können wir auch ihn selbst angreifen. Aber auch dann müssen wir uns sehr gut überlegen, wer und wie das tun soll. Er ist einer der besten Zauberer der Welt, leider.“
Eine aufgeregte Männerstimme unterbrach das Gespräch. „Fabian! Wo steckst du?“
Arthur Weasley bog um die Ecke. „Das ist doch...du redest mit ihr“
„Nein, das ist sie nicht, Arthur. Die andere war Slytherin.“
„Von wem sprechen Sie? Von meiner Schwester Uriella?“, warf Rafaela ein. „Was ist mit ihr?“
„Das... nun...“, stotterte Mr. Weasley. Rafaela las jedoch aus seinen Gedanken die Fortsetzung: Uriellas Freund war ein Todesser namens Nott, der den Ordensmitgliedern vor kurzem knapp entkommen war.
Die beiden Männer gingen weiter und ließen das Mädchen stehen. Rafaela musste erst einmal ihre Gedanken in Ordnung bringen: Uriella hatte also wirklich Kontakt zu den Todessern. Und der Großvater würde dies erfahren! Wie würde er danach handeln? Uriella selbst zu fragen, war unmöglich. Rafaela schwor sich, aus diesem Fabian Prewett so viele Informationen herauszubekommen, wie sie konnte. Ihre Chancen standen nicht schlecht: Anders als sein Schwager schien er ihr zu vertrauen – und er hatte keine Ahnung, dass sie Gedanken lesen konnte. Sie musste nur vorsichtig genug sein, dass dies auch so blieb.
Einige Tage nach Weihnachten sah Rafaela ihre Schwester durch das Gelände laufen. Sie folgte unsichtbar, doch kurz vor dem See machte Uriella sich ebenfalls unsichtbar und schien auch aufgeflogen zu sein, denn ihre Spuren im Schnee endeten vor einem Busch am Seeufer. Rafaela seufzte: Spuren auf der Erde hätte sie mit einem Vergrößerungszauber sichtbar machen können, Spuren in der Luft nicht.