Ich weiss, dass ich von vielen Usern hier Kopfschütteln für diesen Thread hier ernten werde, aber ich finde, dass Reinhard Mey einfach ein Künstler ist, der in der Öffentlichkeit oft völlig falsch wahrgenommen wird und vorschnell in die falsche Schublade gesteckt wird.
Jedenfalls hat er seit Jahren eine sehr konstante Fangemeinde, seine Konzerte sind Monate im Voraus ausverkauft und seine Liedtexte müssen sich in keinem Gedichtband verstecken.
Sie beschäftigen sich mit allen Lebensbereichen, sind lustig, ernst, nachdenklich, erheiternd und immer sehr treffend und auf den Punkt genau formuliert. Man erkennt sich darin selbst so oft wieder und staunt, wie dieser Mann es fertig bringt, solche Kunstwerke zu erschaffen.
Um das den Usern in diesem Forum näher zu bringen werde ich hier jede Woche einen Liedtext von Reinhard Mey posten und würde mich freuen, wenn die eine oder andere Diskussion darüber entstünde.
Beginnen will ich mit einem Lied, dass einen kleinen Tribut an Reinhard Meys Heimatstadt darstellt, die auch die meine ist. - Berlin!
Das Lied stammt aus dem Jahr 1990:
Mein Berlin
Ich weiß, daß auf der Straße hier kein einz‘ger Baum mehr stand,
Ruinen in den Himmel ragten, schwarz und leergebrannt.
Und über Bombenkrater ging ein Wind von Staub und Ruß.
Ich stolperte in Schuhen, viel zu groß für meinen Fuß,
Neben meiner Mutter her, die Feldmütze über den Ohr‘n,
Es war Winter ‘46, ich war vier und hab gefror‘n,
Über Trümmerfelder und durch Wälder von verglühtem Stahl.
Und wenn ich heut die Augen schließe, seh‘ ich alles noch einmal.
Das war mein Berlin.
Den leeren Bollerwagen übers Kopfsteinpflaster zieh‘n,
Das war mein Berlin.
Da war‘n Schlagbäume, da waren Straßensperren über Nacht,
Dann das Dröhnen in der Luft, und da war die ersehnte Fracht
Der Dakotas und der Skymasters, und sie wendeten das Blatt.
Und wir ahnten, die Völker der Welt schauten auf diese Stadt.
Da war‘n auch meine Schultage in dem roten Backsteinbau,
Lange Strümpfe, kurze Hosen, und ich wurd‘ und wurd‘ nicht schlau.
Dann der Junitag, als der Potsdamer Platz in Flammen stand,
Ich sah Menschen gegen Panzer kämpfen mit der bloßen Hand.
Das war mein Berlin.
Menschen, die im Kugelhagel ihrer Menschenbrüder flieh‘n.
Das war mein Berlin.
Da war meine „Sturm- und Drangzeit“, und ich sah ein Stück der Welt,
Und kam heim und fand, die Hälfte meiner Welt war zugestellt,
Da war‘n Fenster hastig zugemauert und bei manchem Haus
Wehten zwischen Steinen noch die Vorhänge zum Westen raus.
Wie oft hab ich mir die Sehnsucht, wie oft meinen Verstand,
Wie oft hab ich mir den Kopf an dieser Mauer eingerannt.
Wie oft bin ich dran verzweifelt, wie oft stand ich sprachlos da,
Wie oft hab‘ ich sie geseh‘n, bis ich sie schließlich nicht mehr sah!
Das war mein Berlin.
Wachtürme, Kreuze, verwelkte Kränze, die die Stadt durchzieh‘n.
Das war mein Berlin.
Da war‘n die sprachlosen Jahre, dann kam die Gleichgültigkeit,
Alte Narben, neue Wunden, dann kam die Zerrissenheit.
70er Demos und die 80er Barrikaden, Kreuzberg brennt!
An den Hauswänden Graffiti: Steine sind kein Argument.
Hab‘ ich nicht die Müdigkeit und die Enttäuschung selbst gespürt?
Habe ich nicht in Gedanken auch mein Bündel schon geschnürt?
All die Reden, das Taktieren haben mir den Nerv geraubt,
Und ich hab doch wie ein Besess‘ner an die Zukunft hier geglaubt.
Das war mein Berlin.
Widerstand und Widersprüche, Wirklichkeit und Utopien.
Das war mein Berlin.
Ich weiß, daß auf der Straße hier kein einz‘ger Baum mehr stand,
Ruinen in den Himmel ragten, schwarz und leergebrannt.
Jetzt steh‘ ich hier nach so viel Jahr‘n und glaub‘ es einfach nicht.
Die Bäume, die hier steh‘n, sind fast genauso alt wie ich.
Mein ganzes Leben hab‘ ich in der halben Stadt gelebt?
Was sag‘ ich jetzt, wo ihr mir auch die andre Hälfte gebt?
Jetzt steh‘ ich hier, und meine Augen sehen sich nicht satt
An diesen Bildern: Freiheit, endlich Freiheit über meiner Stadt!
Das ist mein Berlin!
Gibt‘s ein schön‘res Wort für Hoffnung, aufrecht gehen,
nie mehr knien!?
Das ist mein Berlin!
Quelle: Reinhard Mey