Nach dem Unterricht trennten Maggie und Anna sich von Lana und suchten Marvin und Florian. Sie fanden die beiden auf dem Flur, der zum Zaubereigeschichte-Raum führte.
Die beiden Mädchen berichteten ihren Freunden kurz die neuesten Geschehnisse, während sie sich auf den Weg zu ihren Wohnungen machten, um ihre Taschen abzulegen und dann zum Abendessen zu gehen.
"Mir ist nie etwas aufgefallen", meinte Marvin, als sie in Maggies Wohnung waren.
"Tja, wir Erstklässler sind halt schlauer", wiederholte Anna Vladims Worte stichelnd. Doch schnell wurde sie wieder ernst. "Langsam macht mir das Angst."
Die vier machten sich schweigend auf den Weg zu Annas Wohnung.
Sie liefen gerade den Flur entlang, als Anna einen kurzen Schrei ausstieß und stehen blieb.
Vor ihr war eine zischelnde Schlange. Sie verchwand in einer Wohnung.
Panisch lief Anna geradeaus zu ihrer Wohnung. Sie schaute sich nicht um. Sie rannte nur.
Ihre drei Freunde hatten Mühe, ihr zu folgen, doch schließlich erreichten sie sie.
In ihrem Zimmer ließ Anna sich aufs Bett fallen und atmete tief durch.
Marvin, Maggie und Florian kamen keuchend in ihr Zimmer. Marvin verschloss sorgfältig Annas Tür und wollte sich dann neben sie setzen, doch Anna drängte ihn vom Bett, sodass er sich zu den anderen auf den Boden setzen musste.
Anna vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
"Hey", sagte Maggie leise. "Was ist los?"
"Du brauchst dich nicht so vor der Schlange zu fürchten, sie..", begann Florian.
"Ich fürchte mich nicht vor der Schlange!" Anna schaute auf. Ihr Gesichtausdruck war ernst, sehr ernst und aus ihren Augen sprühten Zornesfunken. "Ich hab mich doch nur ernschreckt..", sagte sie, plötzlich erschöpft. Es schien, als wäre plötzlich alle Anspannung von ihr abgefallen. "Ich hab sie doch nicht gesehn und als ich sie dann ülötzlich murmeln gehört hab.."
Anna schlug sich die Hand vor den Mund. "Ups.."
"Moment", meinte Marvin. "Murmeln gehört?? Du kannst die Schlange verstehen? Du kannst..Parsel?"
Ein Schluchzen entrann Annas Kehle. "Ja", sagte sie. "Ja, und ich hasse mich dafür."
Eine Träne lief ihr die Wange runter.
Die anderen drei warteten anscheinend, dass Anna was sagen würde, also seufzte Anna und ezählte.
"Schon von Geburt an konnte ich mit verschiedenen Tieren reden und sie verstehen. Bald merkte ich, dass das nur mit Insekten und mit Reptilien funktionierte. Ich liebte es, mit Spinnen, Schmetterlingen und Käfern zu sprechen.
Zu meiner Einschulung, also mit elf, bekam ich eine Schlange, Deremy. Er war eine kleine Giftschlange, doch er tat mir nie etwas. Er gehorchte mir. Er war mein Diener. Er gehorchte mir aufs Wort."
Erneut schluchzte Anna.
"Was ihr nicht wisst: Ich hatte mal einen Bruder, er war vier Jahre jünger als ich. Damals wohnten wir alle, meine Eltern, meine Schwester und mein Bruder in einer Hütte in einem abgelegenen Waldstück.
Eines Tages, ich war damals ungefähr zwölf, sollten mein Bruder und ich Pilze sammeln gehen. Die Zeit ging schnell um, wir merkten gar nicht, wie schnell es dämmerte. Bald war es dunkel und wir mussten den Weg nach Hause finden.
An diesem Abend..An diesem Abend wurden wir von einem Rudel Wölfe angegriffen. Es war schrecklich. Es waren nicht sehr viele, aber ich war auch noch sehr unerfahren im Umgang mit Zauberei. Mit Feuer versuchte ich sie abzuhalten, rief nach Hilfe - aber niemand kam.
Dann fiel mir etwas ein. Deremy, meine Schlange, jagte abends oft im Wald. Also rief ich nach ihm. Er kam sofort. Denn er hörte. Er hörte immer.
In diesem Moment wurde ich von einem Wolf angegriffen. Er biss mich ins Bein (dort habe ich immer noch eine Narbe).
Bevor ich ohnächtig wurde, sagte ich zu Deremy: "Bring meinen Bruder nach Hause!" Jedenfalls wollte ich es sagen."
Anna machte eine kleine Pause.
"Von allen Tiersprachen, die ich sprechen kann, ist das Parsel am Tückischsten und Gemeinsten. Parsel darf man nie sprechen, wenn man nicht voll bei Bewusstsein ist, es trickst einen aus."
Anna versuchte, einen weiteren Schluchzer zu unterdrücken.
"Genau wie es mich an diesem Abend ausgetrickst hat. Anstatt "Bring meinen Bruder nach Hause!" sagte ich anscheinend.."Bring meinen Bruder auf dem Weg nach Hause um!"
Maggie sog geräuschvoll die Luft ein.
"Und Deremy hörte. Er hörte immer."
Nun konnte Anna sich nicht mehr zurückhalten und ließ ihren Tränen freien Lauf. Marvin setzte sich neben sie und streichelte ihr tröstend über das Haar, während die anderen beiden distanziert schwiegen.
Als Anna sich halbwegs beruhigt hatte, sagte sie: "Seit diesem Tag habe ich mir geschworen, nie mehr auch nur ein Wort Parsel zu sprechen und keiner einzigen Schlange über den Weg zu gehen."
Es war lange still im Zimmer.
Plötzlich fragte Florian: "Was hat die Schlange auf dem Flur eigentlich gemurmelt?"
Maggie stieß ihm in die Rippen; die Frage war jetzt nicht sonderlich angebracht.
Doch Anna antwortete gefasst: "Irgendwas wie 'Herrin weg' oder 'Herrin verschwunden' und 'Muss suchen'"
"Wer ist wohl diese Herrin?", fragte Marvin.
Niemand antwortete.
Es blieb noch lange stll im Zimmer. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.