Der Wein der Greisen
Ihr steht in einem gemütlich eingerichteten Arbeitszimmer, welches rundum mit Bücherregalen und Schränke voller Pergamente getäfelt ist. Auch zahlreiche Glasvitrinen sind zu sehen, in denen Runensteine und Amulette aus den unterschiedlichsten Materialien liegen. An einer Wand befindet ein großer Kamin, an einer weiteren ein Fenster, hinter euch ist die Tür, durch die ihr herein gekommen seid.
In der Mitte des Raumes steht ein großer, schwerer Eichentisch, dem man ansehen kann, dass auf ihm schon viele Experimente durchgeführt wurden, und nicht alle von diesen Experimenten scheinen ungefährlich gewesen zu sein. Löcher, abgesplitterte Stellen im Holz und Brandflecken bedecken sowohl den Tisch als auch den Boden um den Tisch herum, auch an der Decke sind zahlreiche Eindellungen und Flecken zu erkennen. Auf dem Tisch stehen mehrere Geräte, deren Zweck ihr nicht kennt, ferner liegen dort einige Stücke Pergament und Schreibzeug, mehrere flache Steine, Holzscheiben sowie Gravurwerkzeuge. Ganz offensichtlich ist dies das Arbeitszimmer von Runenmeistern.
Vor dem Fenster stehen zwei Schreibtische mit den Rücken aneinandergestellt, auf beiden Tischen befinden sich neben Schreibwerkzeugen kleinere Öllampen, Planetarien, Flaschen in unterschiedlichen Größen und ein Sammelsurium von weiteren Gegenständen.
An einem der Tische sitzt ein alter Zauberer mit langem weißen Bart und einem erstaunlich großen Buckel. Sein zerfurchtes Gesicht sowie der mürrische Ausdruck in seinen Augen machen den Eindruck, dass nicht nur das Alter allein Schuld an den Falten ist, die auf seiner Stirn stehen.
Er mustert euch neugierig und hebt dann ein Lorgnon an seine Augen. Eine Weile betrachtet er euch einen nach dem anderen an, legt dann sein Lorgnon wieder weg und nickt euch zu. In seinen wasserblauen Augen steht nun ein Glanz, der wie ein Hoffnungsschimmer wirkt.
„Soso, ihr wollt es also wagen“, sagt er und knotet sich dabei die Händer. „Das freut mich, das freut mich sehr! Sehr ihr, ich selbst kann das Wagnis nicht mehr unternehmen, ich fürchte, dazu bin ich zu alt und zu unbeweglich. Und ich bin mir leider sicher, dass unbekannte Gefahren auf euch lauern – bislang hat es nur einer vor euch versucht, und der ist nicht zurück gekommen.“
Traurig schüttelt er den Kopf und sieht dann traumverloren aus dem Fenster.
„Aber ihr seid jung, und ihr seid viele – ihr habt sicher eine Chance, meine Kollegin zu finden und zurück zu bringen.“
Es geht ein kleiner Ruck durch ihn, und seine Gestalt wird trotz des Buckels ein wenig gerader.
„Aber entschuldigt natürlich vielmals, ihr wisst ja noch gar nicht, worum es überhaupt geht. Ich fürchte, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt!“
Er deutet eine leichte Verbeugung vor euch an und richtet sich dann mit einiger Mühe wieder so weit auf, wie es sein Buckel erlaubt.
„Mein Name ist Antti Odinsson, und ich bin von Beruf Runenmeister, wie ihr vielleicht schon erraten habt. Einer der wenigen Runenmeister, möchte ich hinzufügen, die noch experimentell mit den Alten Runen arbeiten, um diese nicht nur herzustellen und anzuwenden, sondern weiter zu erforschen, zu verbessern, und vielleicht sogar neue Runen zu finden, die die Möglichkeiten der Alten Runen ergänzen.
In diesem Labor arbeite ich zusammen mit meiner hochgeschätzten Kollegin Freya Swafnirsdottir. Freya ist besonders begabt im Umgang mit den Runen, muss ich sagen, wohl noch weitaus begabter als ich selbst,“ hier seufzt Antti schwer, „aber auch deutlich risikofreudiger.“
Antti weist mit der Hand auf die zahlreichen Zeichen der Zerstörung die überall im Raum bemerkbar sind. „Schaut euch um - die meisten dieser Flecken, Beulen und sonstiger längst weggeräumter Scherben wurden nicht von meinen Experimenten verursacht. Freya hängt der Idee an, eine neue Rune zu erfinden, eine Rune, welche es ermöglichen soll, Festes in Flüssiges zu Verwandeln und Umgekehrt. Die Wirkung sollte zudem von dauerhafter Wirkung sein - das wäre eine völlige Neuerung in der Runenkunde, denn Wirkungen der Alten Rune sind immer nur von begrenzter Zeit. Ihr seht vielleicht, wie erhaben, aber auch wie gewagt dieses Experiment ist. Von dieser Idee ist Freya geradezu besessen, müsst ihr wissen, und ich kann nicht leugnen, dass sie dabei auch schon einige Fortschritte erzielt hat.“
Erneut seufzt Antti schwer. „Nun, wenn sie zu ihren Lebzeiten noch einen Durchbruch erreichen will, so muss sie sich beeilen - Freya ist fünfzig Jahre älter als ich, und obgleich sie sicher noch sehr rüstig ist, wird ihre Lebenszeit doch nicht mehr ewig dauern. Darum hat sie es wohl auch gewagt, bei ihren Experimenten noch weiter fort zu schreiten. Sie hatte den Entwurf eines eines entsprechenden Runensteins bereits fertig, ein Vorläufermodell sozusagen, das sie an einer Flasche Elfenwein ausprobieren wollte.“
Antti geht zurück zu den Schreibtischen und nimmt eine Flasche aus bläuliche Glas zur Hand, in der man die Flüssigkeit schimmer sieht. „Eine solche Flasche Wein war es, an der sie ihre Rune ausprobieren wollte. Laut Plan hätte der Wein fest und hart werden müssen, wozu auch immer das nutze sein soll. Stattdessen aber...“
Eine bedeutungsvolle Stille liegt im Raum, als Antti hier eine Pause macht und euch mit immer noch schreckgeweiteten Augen ansieht „stattdessen aber wurde sie selbst in die Flasche förmlich hereingezogen. Ich stand hier am Fenster, als es passierte, und habe alles genau beobachtet. Freya selbst löste sich zunächst in Rauch auf, und der Rauch wurde in die Flasche gezogen, sogar durch den Korken hindurch, den Freya nicht geöffnet hatte, und vermischte sich mit der Flüssigkeit. Ich kann nur vermuten, dass Freya sich selbst zu einer Art Elfenwein verflüssig hat, statt den Wein zu verfestigen.“ Antti schüttelt mit dem Kopf.
„Viel schlimmer und unerklärlicher ist mir jedoch, was anschließend geschah, denn kaum hatte sich auch die letzte Rauchschwade in die Flasche verzogen und mit dem Wein vermengt, da setzte ein Sturm an, ein Tosen und Rauschen hier mitten im Arbeitszimmer, das sich gewaltig anhörte und mich selbst so sehr an die Wand drückte, dass ich mich nicht mehr zu bewegen vermochte. Der Sturm brachte viel Sand mit sich, welcher sicher nicht aus der Umgebung stammt, und verteilte ihn überall hier im Arbeitszimmer. Die Flasche aber hat der Sturm angehoben und durch den Kamin mit fortgeführt.“
Nach dieser langen Erzählung sackt Antti merklich in sich zusammen und lässt sich zurück auf einen Stuhl fallen.
„Ich habe keine Ahnung, wo Freya sich nun befinden mag, oder in welchem Zustand sie ist. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt. Allerdings habe ich Vermutungen, und ich glaube, dass sie noch immer im Elfenwein gefangen ist. Der Sand, den der Sturm mitgeführt hat, ist eine Art Flohpulver, soviel konnte ich bei den Untersuchungen erkennen, und ich denke, dass man mit Hilfe dieses Sandes der Freya auf ihrem Weg folgen kann.
Ein wagemutiger Zauberer hat es bereits vor euch versucht, er sagte, er sei immer auf der Jagd nach neuen Anstößen und nach fantastischen Effekten. Nun ja, er wirkte nicht wirklich qualifiziert, muss ich gestehen, aber er war ganz wild darauf, es zu versuchen. Ich schickte ihn mithilfe des Sandes durch den Kamin. Aber er kehrte nicht wieder.“
Antti sieht euch noch einmal eindringlich an.
„Nun aber bitte ich euch: Geht, folgt dem Sturm, stellt euch dem, was immer hinter diesem Kamin liegen mag, und bringt mir die Freya zurück, oder zumindest die Flasche, in der sie sich befindet - um ihre Rückverwandlung kann ich mich dann selbst bemühen.
Seid ihr dazu bereit?
Wenn es euch gelingt, die richtige Flasche zu finden und hierher zu bringen, so weihe ich einen jeden von euch in die Geheimnisse einer Rune ein.“